Das Interview von
Marcel Malachowski mit René Talbot wurde am
4.2.2013 in Telepolis veröffentlicht
"Die Psychiatrie ist im Kern Zwangspsychiatrie"
Bei
der "Betreuung" geht es um eine radikale Entrechtung
Der
Mollath-Skandal erinnert an die schlimmsten Zeiten der Psychiatrie:
politische und gesellschaftliche Instrumentalisierung, wie sie Foucault
beschrieben hat?
René
Talbot: Ja und Nein, denn das sehen wir ganz anders: Die
Psychiatrie ist im Kern(!) Zwangspsychiatrie, ihr Wesen ist es,
Geständniszwang auszuüben. Mit Gewalt wird zu erduldende
Körperverletzung durchgesetzt oder damit gedroht, um
"Krankheitseinsicht" zu erpressen. Das ist immer eine "cruel, inhuman,
degrading", also folterartige Misshandlung. Obwohl unvereinbar mit den
Menschenrechten, soll dieses Instrument der Herrschaft und die
entsprechende Gewaltausübung durch den politischen Willen einer
gesellschaftlichen Mehrheit nun mit dem neuen Gesetz legalisiert werden
können. Psychiatrie ist also immer Instrument politischer
Gewaltausübung.
Aber der Fall
Mollath ist nicht der Alltag, auch wenn die Psychiatrie zu kritisieren
ist?
René Talbot: Bei Gustl
Mollath ist eine Besonderheit dazu gekommen: Die Medien, insbesondere
Report Mainz, haben die bayerische Justizministerin Merk beim Lügen in
die Kamera erwischt. So etwas wirkt, wie damals bei Präsident Clintons
Lüge, sehr skandalisierend. Das Vertrauen in die Herrschenden soll von
solchen Wortbrüchen, wie dem der Frau Merk, ungetrübt bleiben und so
wird auf einmal von einer großen Mehrheit für das Schicksal von Gustl
Mollath Partei ergriffen.
Das ist doch
gut, oder nicht?
René Talbot: Das ist für
ihn persönlich selbstverständlich gut und wahrlich gegönnt, aber das
kann sogar stabilisierend wirken, weil dann, wenn solch besonderer
Missbrauch aufgedeckt und geahndet wird, die Struktur der alltäglichen
regulären Misshandlung insofern bestätigt wird, dass dieser gar nicht
gesehen wird. Ja er wird sogar deswegen eher gebilligt, weil das System
beweise, dass Fehler korrigiert würden. Wird denn durch einen
Neuaufnahme des Verfahrens von Gustl Mollath verstanden, dass das ganze
System der forensisch-psychiatrischen Begutachtung und Therapie ein
Fehler ist?
Das wurde sogar schon mal 2002 im Spiegel festgestellt zum damaligen
Fall Schmökel unter dem Titel: "Noch gefährlicher durch Therapie", wenn ich
zitieren darf: "Denn wie kaum ein anderer ist sein Fall ein
Menetekel, eine Illustration des Elends der forensischen Medizin und
Justiz … Schmökel ist nach seinem jahrelangen Aufenthalt in der
Psychiatrie gewitzt genug, bei verschiedenen Gutachtern virtuos
verschiedene Versionen seiner Taten, Gedanken, Phantasien zu
präsentieren." Aber immer noch wird weiter daran festgehalten, ein
forensisches Gutachten wäre kein reines Wortgestöber, um das absolute
Nichtwissen der Gutachter zu kaschieren. So kommt es zu dieser
Diagnosentitel-Reihe der Gutachter: "Sexualpathologische
Triebabweichung; Sodomie mit nekrophilen Tendenzen; heterosexuelle
Pädophilie; sexuelle Deviation auf dem Boden einer Borderline-Störung
im Sinne der primären psychischen Fehlentwicklung; Pädophilie auf
Grundlage einer Persönlichkeitsstörung; multiple Störung der
Sexualpräferenz; narzisstische Persönlichkeitsstörung; keine
strukturellen Nachweise einer Pädophilie, ein normaler, das heißt
genital organisierter Heterosexueller; Sodomie mit nekrophilen
Tendenzen und eine heterosexuelle Pädophilie."
Der forensische Oberprofessor Leygraf persönlich trifft dann mitten
hinein ins Therapeutenherz: "Betrachtet man seine
Delinquenzgeschichte im Längsschnitt, dann hat ihn die bisherige
psychiatrische Unterbringung deutlich gefährlicher werden lassen."
Weitere allgemein bekannte Beweise sind das, was Gert Postel gemacht
hat oder wie sich die Gutachter bei Anders Behring Breivik uneins waren.
Ist nur die
bayerische Ministerin die Sünderin in diesem Wahnsinn der Normalität?
René Talbot: Sie hat den
besonderen Fehler gemacht, vor der Report Mainz Kamera zu lügen,
anstatt jede Stellungnahme zu verweigern.
Gab es
überhaupt Verbesserungen in der Psychiatrie seit 68?
René Talbot: In der
Psychiatrie? Nein! Im Gegenteil, sie hat sich weiter ausgebreitet, ihre
Zugriffsmöglichkeiten verschärft. Aber in der Zusammenarbeit der Gegner
der Zwangspsychiatrie untereinander und mit subversiven Juristen,
Gesellschaftswissenschaftlern und Politologen sowie einer gewissen
Aufmerksamkeit in der Kunstszene, z.B. der Volksbühne am
Rosa-Luxemburg-Platz, ist ein Durchbruch gegen das System gelungen.
Unter dem Motto: Geisteskrank Ihre eigene Entscheidung! schließt eine
spezielle Patientenverfügung, die PatVerfü, jedes psychiatrische
Diagnostizieren rechtswirksam aus. Das hat zur Folge, dass dann keines
der Sonder-Entrechtungsgesetze angewendet werden kann, weder zur
Zwangseinweisung noch zur Zwangsbehandlung oder sogar zu einer
zwangsweise "Betreuung", die tatsächlich eine Vormundschaft ist.
Dass es bei der "Betreuung" um eine radikale Entrechtung geht, zeigt,
dass das neue Gesetz gerade für diese Menschen gelten soll, die durch
die Entmündigung schutzlos gestellt wurden. Deshalb kann jedem
Erwachsenen nur dringend empfohlen werden, eine im Internet unter
kostenlos zu beziehende PatVerfü zu unterschreiben und immer bei sich zu
tragen.
Abstruse
Biologisierung
Aber damit ist kaum das Problem der Zwangspsychiatrie im Allgemeinen zu
lösen?
René Talbot: Das Problem
der forensischen Psychiatrie-Willkür und des § 63 StPO darf auf keine
Fall auf einen Einzelfall reduziert werden, sondern es ist
menschenrechtlich ein strukturelles bzw. systematisches. Das sagen
nicht etwa nur wir, sondern das hat das UN-Hochkommissariat für
Menschenrechte in einer Erklärung an die Vollversammlung der Vereinten
Nationen am 29.1.2009 dokumentiert: "Im Bereich des Strafrechts
erfordert die Anerkennung der Rechtsfähigkeit von Menschen mit
Behinderungen die Abschaffung der Verteidigung auf der Grundlage der
Negation strafrechtlicher Verantwortung aufgrund des Vorliegens einer
psychischen oder geistigen Behinderung. Stattdessen müssen
behinderungsunabhängige Maßstäbe für das subjektive Element von
Straftaten mit der Berücksichtigung der Situation der einzelnen
Beschuldigten angewandt werden."
Der Direktor
eines Berliner Maßregelvollzugs kritisiert die Politik des Berliner
Senats des Wegsperrens in der ARD gar als "stalinistisch"!?
René Talbot: Dass das
offenbar einer sagt, der selber einen Gulag verwaltet, ist allerdings
pikant.
Ein Vergleich mit einem diktatorischen Terrorregime ist bei der
Zwangspsychiatrie immer richtig, wenn es auch Unterschiede in den
Mordraten und in den ideologischen Begründungen für den ausgeübten
Terror gibt. Von der Ideologie her ist die Zwangspsychiatrie aber eher
dem Biologismus und damit Eugenik und Rassenhygiene zuzuordnen.
Schließlich basiert sie ja auf dem Kategorienfehler, Gründe für
Ursachen auszugeben und Gedanken, Gefühle und Verhalten zu einem
Stoffwechselprodukt des Gehirns zu erklären. Diese abstruse
Biologisierung passt ziemlich genau zu Ernst Haeckels "Politik als
angewandte Biologie".
Ihr Verband
lehnt die Psychiatrie in ihrer heutigen Form strikt ab. Warum diese
Anti-Haltung? Kann sie nicht auch helfen?
René Talbot: Wir sind nur
Anti-Zwangspsychiatrie. Eine Psychiatrie, in der Zwang nur aufgrund
einer positiven Vorausverfügung ausgeübt würde, also der Betroffene in
einer Patientenverfügung ausdrücklich psychiatrisches Diagnostizieren,
Zwangseinweisung und eventuell auch Zwangsbehandlung autorisiert hat,
würde den Willen des Betroffenen erfüllen statt brechen. Vergleichbar
wäre das damit, dass man sich auch gewöhnlich als sadistische Quälerei
empfundene Sexualpraktiken wünschen kann und sie dann keine Folter,
sondern ein S/M-Spiel sind. Nichts stünde uns ferner, als so etwas
verbieten zu wollen.
Wäre hingegen Helfen inneres Ziel der Psychiatrie, wäre diese
Gewaltausübung in der Profession als eine gesellschaftlich ihr
aufgetragene Bürde empfunden worden. Sie hätte die Befreiung von der
Gewaltausübung per höchstrichterlichem Beschluss 2012 freudig begrüßt.
Stattdessen beweist die Psychiatrie nun, dass sie sich nur zur
Täuschung der Öffentlichkeit in einem Helfermäntelchen versteckt hatte
und sich angeblich immer gerade wieder reformiert. Diese falsche
Fassade des Helfens und eines reformerischen Fortschritts konnte sie
nun nicht mehr aufrechterhalten, sondern musste ihren tatsächlichen
Charakter offenbaren, sich decouvrieren, also alles Tarnen und Täuschen
aufgeben und die sofortige Restaurierung der praktizierten
Gewalttätigkeit als angebliche Notwendigkeit fordern.
Soll
man einem Terrorsystem gegenüber Konstruktivität beweisen?
Kritiker werfen der BPE mangelnde Konstruktivität bezüglich der
Psychiatrie vor. Was entgegnen Sie ihnen darauf?
René Talbot: Soll man einem
Terrorsystem gegenüber Konstruktivität beweisen? Etwa in der Beihilfe
zur Perfektionierung des Terrors? Selbstverständlich sind wir als
Menschenrechtsaktivisten definitiv unkorrumpierbar und unabhängig.
Die obersten
Gerichte haben in letzter Zeit die Rechtspraxis der zehntausendfachen
Zwangsbehandlungen harsch kritisiert und Novellierungen der Gesetze
angeregt. Reicht das, um die Betroffenenrechte sicherzustellen?
René Talbot: Das
Bundesverfassungsgericht hat alle Gesetze, die diese Folterpraxis in
den 63 Jahren seit Bestehen dieser Republik legalisieren sollten, für
unvereinbar mit dem Grundgesetz erkannt. Sie waren also alle illegal.
In Ihrer Frage wird falsch unterstellt, dass höchstrichterlich eine
neue Gesetzgebung gefordert worden wäre. Wenn das der Fall gewesen
wäre, hätte es nicht die Gesetze genichtet, sondern mit einer Frist
eine Novellierung gefordert. Es ist eine Falschinformation, die gezielt
verbreitet wurde, um damit zu begründen, ein neues Gesetz müsse
geschaffen werden.
Wenn dieses Gesetz verabschiedet werden sollte, ist es der politische
Wille des Bundestages, bestimmte diskriminierte Bürger mit der
zweitschwersten Grundrechtsverletzung nach der Todesstrafe, dem
gewaltsamen Eingriff in den Körper, zu bestrafen, bzw. mit der Drohung
gefügig zu machen, dass diese Mittel schließlich auch noch zur
Verfügung stünden.
Wenn es hingegen bei dem Ende der Zwangsbehandlung bleiben sollte, wäre
das ein weltweit bedeutender Schritt hin zu einer umfassend
gewaltfreien Psychiatrie. Nur das könnte die Profession auf längere
Frist von ihren Verbrechen rehabilitieren.
Wie bewerten
Sie die Arbeit etwa der Sozialpsychiatrischen Dienste (SpD) der
Bezirksämter? Diese gelten ja als "sozialpädagogisch" sinnvoll?
René Talbot: Das Gegenteil
ist der Fall - der SpD organisiert die Psychiatrisierung in der Fläche,
ist der Aufspürdienst für die Zwangspsychiatrie, die staatliche Stelle,
die Verleumdungen, Denunziationen und üble Nachreden sammelt und
auswertet. Durch gewaltsame Zugriffe, Polizeieinsätze auf Veranlassung
des SpD, sind in den letzten 5 Jahren mindestens 14 Betroffene
erschossen worden. Die Betroffenen haben sich in Notwehr zu Recht gegen
einen Überfall verteidigt. Die Polizei hingegen fühlte sich
angegriffen, meinte dem SpD Amtshilfe leisten und jeden Widerstand mit
aller Gewalt brechen zu müssen. Drahtzieher war immer der SpD. Leider
ist die Polizeiführung gegenüber den Gesundheitsbehörden völlig
unkritisch. Wenn also der SpD sozialpädagogisch genannt werden sollte,
dann wäre das der blanke Hohn, ja zynisch zu nennen, denn
Sozialpädagogik beruht auf Freiwilligkeit.
In den USA
oder Italien gelten Ärzte nicht als Vertrauenspersonen – in Deutschland
dagegen gelten sie als Berufsgruppe mit der größten Integrität laut
Umfragen, trotz aller Medizin-Skandale!?
René Talbot: Nun, ich denke,
da gibt es nur graduelle Unterschiede. Vielleicht treffen Ärzte als
Agenten eines Normierungsbedürfnisses in Deutschland auf eine besonders
ausgeprägte Komplizenschaft? Meines Wissens sind Ärzte nur bei den
Sinti und Roma eine eher verachtete Berufsgruppe. Ansonsten überwiegt
in der westlichen Welt doch eher die Hoffnung, Ärzte könnten heilen,
von Schmerz und Pein befreien und das Leben verlängern. Und dabei haben
sie einen privilegierten Zugang zu wirkungsvollen Drogen, die nur sie
verordnen können. Das ist Kennzeichen einer sehr starken Machtposition.
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