Ideologische Wurzeln des Vernichtungsprogramms
Vortrag im Rahmen der Gedenkveranstaltungen anlässlich der Aktion "Arbeitsscheu Reich"

am 27.1.2008 im Haus der Demokratie und Menschenrechte in Berlin

Vorbemerkung:
Es gibt zwei unterschiedliche Erklärungsansätze des Nazi-Exterminismus:
einerseits ökonomische Erklärungen, Behauptung von "Rationalität",
andererseits Erklärungen aus der Ideologie.

Ökonomische Erklärungen sind in der Linken sehr gefragt,

1. weil sie mit den produktionistischen Welt-Erklärungen von Karl Marx kompatibel sind, dass das Sein das Bewusstsein bestimme und fürs Sein die Produktinonsverhältnisse, insbesondere die Eigentumsverhältnisse an Produktionsmittteln, entscheidend seien, also der Kapitalismus für das nationalsozialistische Vernichtungsprogramm ursächlich sei. Entsprechend wurde der Begriff "Nationalsozialismus" in der Linken mehr oder weniger unterschlagen und durch den viel weiteren Begriff "Faschismus" ersetzt. Damit wurde aber genau das nazi-spezifische, die Shoah, der systematische ärztliche Massenmord ausgeblendet, der für Faschisten nicht zwingend ist, wie insbesondere der italienische Faschismus zeigt.

2. Der zweite Grund hängt mit dem ersten zusammen: es soll eine materialistische, nicht eine vermeindlich idealistische Erklärung auch dieser Geschehnisse in der Welt gegeben werden, wobei die moralische Bewertung, praktische Philosophie, sicher implizit mitschwingt, aber nicht zum expliziten Maßstab genommen wird. Dazu gleich eine Erklärung des Warum.

Ohne ökonomischen Erklärungen rundweg widersprechen zu wollen, möchte ich doch drei Hinweise auf Widersprüchlichkeiten machen, die vielleicht sogar zu der Unhaltbarkeit dieser Erklärungen führen:

Damit sind wir bei dem, was zusätzlich zu allen rationalen Erklärungen noch hinzukommen muss, das sozusagen religöse oder metaphysische Element, bzw. die von Marxisten gerne als Überbau der tatsächlich wirkenden Kräfte der Ökonomie bezeichnete Ideologie.

Dass es auch früher keine rationalen Rechtfertigungen gab, zeigt das Herausreißen von Menschenherzen bei lebendigem Leib zu religiösen Zwecken. Diese rituellen Menschenopfer waren natürlich alles andere als primitive Morde. Sie dienten vielmehr der Erhaltung der göttlichen Weltordnung und blieben sogenannten Hochkulturen vorbehalten. Meister dieses schauerlichen Ritus waren bekanntlich die Azteken. (Die aztekische Prozedur des Herzopfers hat auch die Spanische Soldateska erschreckt, als sie 1519 nach Mexiko kam.)
Soweit die Vorbemerkungen zum Thema.

Hauptteil:
Nun zum Thema und ich beginne mit einer ganz grundsätzlichen Überlegung, die beinahe banal anmutet:
Menschen können aus denselben Gründen das Verschiedenste, ja sogar Gegensätzliche, tun, und sie können aus den unterschiedlichsten Gründen dasselbe tun.
Das ist die Ontologie der menschlichen Freiheit.

Um es mit der Mengenlehre noch plastischer zu machen:

Es gibt also keine irgendwie abstrahierbare Zuordnung von Gründen zu Verhalten oder umgekehrt.
Damit gibt es auch keine Möglichkeit einer nicht-mysteriösen Prognostizerbarkeit menschlichen Verhaltens.

Diese Freiheit bildet am besten noch Literatur ab. Willkürliche kommunikative Zeichen, Sprache und Sprach- bzw. Wort-Neuschöpfungen sind prinzipiell unberechenbar (Gödel läßt grüßen). So ist Sprache konstitutiv für die Menschheit und mit ihr ist wiederum auch die Voraussetzung dafür geschaffen, dass es Verantwortung, gut wie böse, also moralisches Handeln mit der Möglichkeit, sich schuldig zu machen, gibt.

Und sie gibt einen Hinweis darauf, dass eine Antropologie, also eine Lehre von dem, was den Menschen gemeinsam ist, eher über die Kunst, die Höhlenmalerei, den Luxus und den Überschuß als über den Gebrauch von Werkzeug und die Produktionsfähigkeiten von Menschen zu Erkenntnissen kommt. (Wittgenstein forderte sogar: Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten)

Nun bringt diese Freiheit der Menschen selbstverständlich das Problem mit sich, dass Einzelne auch Dinge tun können, die von vielen Anderen unerwünscht sind. Womit wir bei den Gewaltverhältnissen angekommen sind und deren Legitimierung - der handelnden Herrschenden vor sich selbst, wie auch gegenüber dem Rest der Gesellschaft.

In der Legitimierung der Gewalt, ihre Transformation in Recht und damit legale Gewalt, fließt die ganze Ideologie einer Gesellschaftsformation ein. Insbesondere sind deren Letztbegründungen charakteristisch, also dort wo der Rekurs auf andere Begründungen endet, deren Theologie.

Animismus und anderen Urglauben möchte ich in dieser Betrachtung außer Acht lassen und die Unterschiede zwischen den monotheistischen Religionen hervorheben: im jüdischen ist Gott Vertragspartner, ein Äußerer gegenüber dem Gläubigen und die Menschen warten noch auf die Befreiung, im katholischen ist Gott schon vermenschlicht, aber es gibt eine strenge Hierarchie mit einem kinderlosen älteren Herren an der Spitze.

Und ein noch wesentlicherer Unterschied, im jüdischen ist es ein gerechter Gott, also ein Vertragspartner, der sich strikt an seine Versprechungen hält, im christlichen ist es ein Gott des Liebesgebots, also der einer notwendigerweise subjektiven Intention!
Entsprechend unterschiedlich sind die gesellschaftlichen Prämissen mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen. Ich zitiere aus Thomas Szasz: "Theologie der Medizin" S. 164

..."kann Gerechtigkeit im einfachsten Sinn als Erfüllung von Verträgen oder Erwartungen definiert werden. Verträge beinhalten außerdem Leistungen und Gegenleistungen - also offenkundige Handlungen. Dadurch unterscheiden sie sich von Absichten, Gefühlen oder Geisteszuständen, die persönliche Erfahrungen sind. Folglich läßt sich Gerechtigkeit öffentlich kontrollieren, überprüfen und beurteilen, während Liebe nicht überprüfbar ist.

Daher ist die Behauptung man handle gerecht, ein Ersuchen um die Zustimmung anderer Menschen, während die Behauptung, man handele liebevoll, keinen Raum für das Urteil anderer läßt und in ihrem Eifer auch keinen Widerspruch duldet. Kurz obwohl die Liebe dem Ideal nachstrebt, die Bedürfnissse der anderen zu beachten, und die Gerechtigkeit dem Ideal, vereinbarte Regeln zu beachten, bietet die Gerechtigkeit in der Praxis den Interessen der anderen, so wie sie selbst sie verstehen, mehr Schutz als liebevolle Handlungen."

Dies erklärt wie Intentionales eben keinen Schutz vor den Verfolgungen und Vernichtungen bietet wie z.B. in der Inquisition. Dabei war als Motiv ganz typisch, dies zum Besten des Verfolgten zu tun, ihn zu bekehren, zu missionieren. Die Grundlage ist ein intentionaler Maßstab und eben nicht ein sprachlich/kommunikativer, der das Handeln an Versprechungen und Verträgen meßbar macht, sondern ein willkürlicher Maßstab der Liebeserklärungen der Herrschenden.

Aber statt einer Emanzipation von der Sünde durch einen Preiskampf beim Ablaßhandel, nimmt nun die Geschichte ihre schlimmste Wendung: Die Moral wird von den Reformisten von einer äußeren Autorität und kommunikativen Kontrolle - Gerechtigkeit - völlig abgelöst und ins Innere des Subjekts verlegt, in sein Gewissen. Dadurch kann man sich den eigenen Erfolg in der Welt zum Zeichen der göttlichen Anerkennung machen, und nicht nur die protestantische Ethik des Geistes des Kapitalismus war geboren. Von nun kann sich der Produzent in die Produkte seiner Arbeit seine Verwirklichung als Mensch phantasieren. Arbeit bekommt gesellschaftlich einen neuen Ort. Gleichzeitig wird mit diesem Konzept die gesamte Umwelt, die sog. "Natur", rationalisiert, immer neuen Berechungen unterzogen und mit der Verheißung von Vorhersagbarkeit und einer sicher planbaren Zukunft durch mathematische Verursachungsmodelle Manipulierbarkeit gewähnt.

Dieser Zugriff machte selbstverständlich vor dem Menschen nicht halt, sondern hatte genau im Gegenteil den Mensch zu rationalisieren zum Ziel. Aber was konnte dabei störender sein als die menschliche Freiheit, die Ontologie menschlicher Freiheit? Um der den Garaus zu machen, sie zu verleugnen, sollte Vernunft herrschen, eine Vernunft, die dann, sozusagen logischerweise, sogar Gott überflüssig machte, bzw. ihn aus seiner zentralen tragenden Rolle verdrängte und stattdessen eine dekorative Rolle zuwies. Letztbegründungen sollte nun die Wissenschaft liefern.

Statt dass die Antropologie, also die Lehre von dem, was den Menschen gemeinsam ist, eine Stütze für Menschenrechte geworden wäre, wurde Antropologie eine Wissenschaft, die die Kathegorien ausmachte, um Mensch voneinander zu unterscheiden, Menschen von Untermenschen usw. Die Antropologen ordneten sich selber selbstverständlich den Vernünftigen als Teil der Herrschenden zu.

Dazu Jean Baudrillard: "Der symbolische Tausch und der Tod" S. 51:
Während einer ersten Zeit sperrt eine Gesellschaft im Zuge ihrer Rationalisierung ihre Müßiggänger, ihre Irren, ihre Abweichler ein, sie beschäftigt sie, sie hält sie fest, sie zwingt ihnen ihr rationales Arbeitsprinzip auf. Aber die Ansteckung ist wechselseitig, und jeder Einschnitt, durch den die Gesellschaft ihr Prinzip der Rationalität errichtet hat, wirkt auf die Gesellschaft der Arbeit insgesamt zurück: die Einsperrung ist ein Mikromodell, das sich in der Folge verallgemeinern und als Industriesystem auf die gesamte Gesellschaft ausdehnen wird, die im Zeichen der Arbeit, der produktivistischen Zwecksetzung zum Konzentrationslager, zum Gefangenen- und Straflager geworden ist.

Ganz kurz die weiteren Schritte dieser Entwicklung: es findet eine Medizinialisierung und Biologisierung des Verhaltens statt. Zu den neuen Inquisitoren werden die Psychiater. Alexander Meschnik formuliert es in einem Vortag über "Die Medikalisierung des Politischen" so:
Analog zu einem theokratischem System mit seinen Ordenshütern und heiligen Verpflichtungen könnte man den nationalsozialistischen Staat als eine Biokratie bezeichnen. Der Arzt als "Pfleger des Volkskörpers" und "biologischer Soldat" war für die biomedizinische Vision der nationalsozialistischen Eschatologie von herausragender Bedeutung. Auch Adolf Hitler hatte sich bereits 1925 in Mein Kampf als Chirurg am staatlichen Organismus vorgestellt, der die in seinen Augen krankhaften Teile der Gesellschaft mit scharfen und präzisen Schnitten entfernen wollte. Zweifellos muß die Medikalisierung des Tötens, die Tötung im Namen einer höheren und umfassenderen Heilung, als Schlüssel für ein Verständnis der Massenmorde herangezogen werden. Mehr noch: das Töten als therapeutischer Imperativ steht im Zentrum der nationalsozialistischen Praktiken.

Angefangen mit dem kurz nach Hitlers Machtergreifung im Juli 1933 geschaffenen "Erbgesundheitsgesetz" über die Praxis der "Euthanasie" bis hin zu den Massenmorden in den Gaskammern der polnischen Vernichtungslager: es wurde stets im Namen höherer biologischer Prinzipien gehandelt. Im Mittelpunkt stand die Idee einer umfassenden Katharsis. So wie Hitler im Krieg den großen "Reiniger der Nation" erblickte, so sollte die Medizin in Kombination mit der Biologie ein symbolisch konsistentes Universum schaffen: die perfekte Rassengemeinschaft. Rudolf Heß, der Stellvertreter des Führers, brachte dies im Jahre 1934 auf die einfache Formel: "Nationalsozialismus ist nichts anderes als angewandte Biologie."

Nun hat nicht erst der Nationalsozialismus sozialdarwinistische und rassenhygienische Vorstellungen erfunden. Die imperialistische Politik des 19. Jahrhunderts ging von einer selbstverständlichen Überlegenheit der weißen Rasse aus, innerhalb derer es wiederum hierarchische Abstufungen und soziale Schichten gab. Der Begriff der Eugenik wurde Ende des 19. Jahrhunderts von dem britischen Naturforscher und Mathematiker Francis Galton geprägt und entstand innerhalb der breiteren Bewegung des Sozialdarwinismus. Eugenik war definiert als "die Wissenschaft von der Aufwertung der menschlichen Rasse durch verbesserte Fortpflanzung." Die Eugenik verklammerte von Beginn an Biologie und Gesellschaftswissenschaften, der moderne Staat sollte, ganz den Prinzipien der Staatsräson verpflichtet, einer vernunftorientierten Sozialpanung unterworfen werden. Während in den USA zu Beginn vor allem Psychologen eine aktive Rolle in der eugenischen Bewegung spielten, wurde die Eugenik in Deutschland wesentlich von akademischen Psychiatern getragen, die in staatlichen Heilanstalten und Universitätskliniken arbeiteten. Die Psychiatrie teilte im wesentlichen die Ansichten über die Degeneriertheit der unteren Klassen, machte aber darüber hinaus soziale Urteile wie "Entartung"oder "Minderwertigkeit" zu diagnostischen, also medizinischen Begriffen. Später führten dann nichtmedizinische Definitionen wie Asozial, Rassenschänder, Gemeinschaftsunfähig, Gewohnheitsverbrecher u.a. unmittelbar zum Tod.

Noch ein Zitat von Max Horkheimer:
Die Ermordung der Irren enthält den Schlüssel zum Juden-Pogrom... Daß sie von den Zwecken und Zielen, in deren Dienst das Leben der Heutigen verläuft, nicht genauso gebannt sind wie die Tüchtigen selbst, macht die Irren zu unheimlichen Zuschauern, die man wegschaffen muß... Wieder und wieder sollte sich erweisen, daß Freiheit nicht möglich ist[1]

Fazit:
Als Fazit ein Zitat von Ernst Klee:
Nicht die Nazis haben die Ärzte gebraucht, sondern die Ärzte die Nazis.


[1] Gesammelte Schriften Band 17:
Briefwechsel 1941-1948. Hrsg. von Gunzelin Schmid Noerr, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/ Main 1996