aus: "Soziale Psychiatrie" Heft 4/99

Utopie 2019

Alles ist schon wieder so lange her:
Wann war das, 2001 oder 2002, als die damals noch in ihrer alten Form existierende DGSP sich auf den Vorschlag der Irren-Offensive eingelassen hat? Tatsächlich sogar schneller als erwartet wurde 5 Jahre danach zuerst im Saarland, dann in Berlin die Zwangspsychiatrie gesetzlich abgeschafft. Die anderen Bundesländer folgten ganz schnell und dominoartig darauf die andere Staaten; die USA allerdings erst 2010, wenn ich mich recht entsinne.

Die Folgen waren dramatisch: die Entscheidung von 2001 hielt eine Minderheit in der DGSP für unerträglich und sie flüchtete sich in die biologistische Imigration - heute sind aus den damals Jungen ganz passable Drogenberater geworden, nachdem sie selber an Haldol, Liponex und Heroin genascht hatten und somit auch ihre eigene Drogenerfahrung ins Experten-Feld führen konnten.
Aber auch in der Mehrheitsfraktion blieb nichts beim Alten und mit dem Ende der Zwangspsychiatrie spaltete sie sich in zwei Gruppen: die einen wollten weiter helfen und heilen und entschieden sich für einer Fusion mit einem zuvor misstrauisch beäugten Konkurrenten - den Scientologen. So konnte wenigstens unter dem neuen Dach weiter der Freude am Geständnis anderer gefrönt werden. Die Erfolge freiwilliger „Therapie" ließen sich sehen: trotz der alten Hasen bei den Scientologen konnte sich ein erheblicher Teil der Fusions-Gruppe bis in die Topkader vorarbeiten und vielen einfachen Mitgliedern zu einem „Clear"verhelfen.

Auf dem Namen DGSP bleib ein verlorener kleiner Haufen Sozialarbeiter mit langen Bärten und Zöpfen sitzen, die sich entschlossen, in Erinnerungen an alte Zeiten zu schwelgen - mangels Klienten sperren sie sich gelegentlich gegenseitig ein und verpassen sich eine Depotspritze. So wurde man wenigstens endlich dem Namen „für Soziale Psychiatrie" gerecht und konnte sich dem edelsten Privileg von richtigen Ärzte widmen - dem Selbstversuch in kollektiver Behaglichkeit. Bei der Entdeckung neuer Cocktails gab es ab und zu noch Gespräche mit den Drogenberatern, die ihnen aber ansonsten zu arrogant waren.

Ja, die Welt hat sich gewaltig verändert: Was damals vor 20 Jahren noch als „Patientengut" durch die psychiatrischen Mühlen geschleust wurde, wird heute als Avangarde gefeiert. Die Frührentner waren die ersten, die im "Jahrhundert der Parasiten" (der Titel des 21ten Jahrhundert, nach dem „Liberalen“ 19ten der Bürger und dem „Sozialdemokratischen“ 20ten des Proletariats) die Zeichen der Zeit verstanden hatten und ihre Bereitschaft NICHT zu arbeiten den Arbeitssehnsüchtigen zu immer höheren Tarifen verkauften. Seit durch die vernetzte Bio-Nano-Elektronic sogar ganze Städteplanungen auf Mikrochips geladen werden können, die ausgesäht werden und 5 Jahre danach ohne einen Handschlag die Wohnungen bezugsfertig dastehen läßt, ist offensichtlich: Es bleibt für die Arbeitssehnsüchtigen nur noch die Bedienung der "Parasiten", die eine immer aufwendigere Versorgung in Kauf nehmen, denn die sog. Dienstleistungsgesellschaft ist genauso wie der Markt für materielle Güter in eine sog. "reverse Ökonomie" gekippt - alle Produkte sind zu Abfall geworden. Da Arbeit adelt, ist es ein Privileg, ihn produzieren zu dürfen und abgenommen zu bekommen.

Ach übrigens, ein Kelch ist an uns vorübergegangen: die pränatale Gleichschaltung per psychiatrischer Genetik. Die Selbstversuche mit dem Diskriminierungsgen von Psychiatern haben zwar einen signifikanten Marker auf dem kypjl Genabschnitt des dritten Chromosoms rechts ergeben, aber vor den Eingriffsmöglichkeiten haben die Kollegen dann doch zurückgeschreckt und die ganzen Versuche zur biotechnischen Erbhygiene wurden zum Wissenschafts-Irrtum erklärt. Aber das ist auch schon wieder 12 Jahre her.

© René Talbot, Dozent am Lehrstuhl FÜR Wahnsinn
an der freien "Universität" in Berlin

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