Der Text wurde von den "Sozialpsychiatrischen Informationen" 4/2012 (Zeitschrift für kritische Psychiatrie seit 1970, siehe Inhaltsverzeichnis) erstveröffentlicht.

Von vielen unbemerkt
sind wir übern Berg


Denn seit dem 1.9.2009 gibt es durch das zu diesem Datum in Kraft getretene Patientenverfügungsgesetz die inzwischen von allen anerkannte Möglichkeit, durch eine PatVerfü nicht mehr geisteskrank gegutachtet bzw. diagnostiziert werden zu können, wenn man das nicht ausdrücklich will. Die PatVerfü, die schlaue Patientenverfügung gegen psychiatrische Zwangsmaßnahmen:
Geisteskrank? Ihre eigene Entscheidung!
Es kann sich dann eben um keine Krankheit mehr handeln, wenn man sich mit einem Stück Papier dagegen immunisieren kann.

Die Annahme von Geisteskrankheit beruhte auf einem Kategorienfehler, und dieser wird offensichtlich und unhaltbar, sobald eine nicht mehr völlig ignorierbare Minderheit die PatVerfü nutzt. Von der Benutzung der PatVerfü kann sie aber nicht mehr abgehalten werden, weil sie auf einem mit breiter Mehrheit geschaffenen Bundesgesetz beruht. Es gibt also keine Rettung mehr – ein gängiges Bild dafür: auch die fünfte Sektion der Titanic ist aufgerissen. Da nun das Konzept von Geisteskrankheit als Krankheit, also als objektiv feststellbarem Sachverhalt oder Tatbestand unwiederbringlich verloren gegangen ist, muss die Profession - um im Bild zu bleiben - die Rettungsboote JETZT zu Wasser lassen: umsteigen auf eine konsequent und durchgehend gewaltfreie Psychiatrie. Selbstverständlich sollen den Patienten, die durch eine positive Vorausverfügung sich nicht nur an die Profession gebunden haben, sondern explizit psychiatrischen Zwangsmaßnahmen zugestimmt haben, diese Möglichkeiten weiter offen stehen – eben so, wie sie das vorher autorisiert haben. Dafür kann dann auch mit einigem Aufwand geworben werden. Aber unter keinen Umständen wird mit Einsperren und womöglich sogar Körperverletzung die Würde einer Person dadurch verletzt, dass ihr Wille gebrochen wird. Diese böse Eigenschaft der Zwangspsychiatrie zählt dann endlich, endlich zur Vergangenheit, denn im voraus individuell zugestimmte Zwangsbehandlung bricht nicht den Willen, sondern erfüllt ihn - wie alle S/M Spiele dann ja auch keine Folter mehr sind.

Für diesen Wechsel des Betriebsmodus ist JETZT der beste Moment gekommen, weil einerseits der PatVerfü nur noch durch einen Umstieg auf konsequente Gewaltfreiheit der Wind aus den Segeln genommen werden kann. Die PatVerfü wird nun unaufhaltsam in einer Medienkampagne breit beworben, so dass sogar die Bundesdirektorenkonferenz und die DGPPN in Panik geraten versucht haben, die Aktion Mensch als Sponsor unter Druck zu setzen, ja absurder Weise sogar verlangt haben, die Aktion Mensch solle sich bei den „psychisch Kranken“ entschuldigen. Andererseits können Gesetzgeber nach den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts vom 23.3. und 12.10.2011 der Zwangsbehandlung, wenn überhaupt, nur noch Aufschub gewähren, der sie auch nicht mehr retten kann, und das auch nur um den Preis völliger Desillusionierung der organisierten Psychiatrie-Erfahrenen, bei denen dieser Affront ganz böse ankommen würde. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass die Versuche, zu duldende Körperverletzung erstmals grundgesetzkonform zu legalisieren, in Karlsruhe nochmals scheitern werden. Die Hürden, die in den BVerfG Beschlüssen gesetzt wurden, sind Gott sei Dank zu hoch.

Wenn man der Sozialpsychiatrie eine Anti-Nazi-Grundüberzeugung und einen entsprechenden Wertekonsens unterstellt, dann gilt darüber hinaus für diesen Wechsel des Betriebsmodus die folgende Begründung:
Die Rechtfertigung für den systematischen ärztlichen Massenmord war psychiatrische Erbhygiene und die Morde wurden als „Euthanasie“ – Tötung auf Verlangen - verbrämt. Die Opfer wurden so noch einmal entwürdigt, ihres Willens beraubt, weil ihnen mit dem Gebrauch dieses Wortes für ihre Ermordung unterstellt wurde, sie hätten ihren Tod gewünscht. Der Gebrauch dieses Wortes heute für den systematischen ärztlichen Massenmord von 1939 bis 1949 ist die direkte Reproduktion von Ärzte-Nazi-Ideologie, ahnungsloser Ausdruck von Identifizierung mit den Tätern und damit der Versuch einer Vertuschung von deren Schuld.* Unterstellen wir, dass das Wort nur gedankenlos so verwendet wird, wie es bei dem Wort „Endlösung“ nicht mehr vorkommt. Ganz ähnlich fällt man auf die Beschönigungen der Nazis herein, wenn man deren Redewendung von „lebensunwertem Leben“ nicht durchschaut. Um wertes oder unwertes Leben ging es damals nicht, denn dann wäre es dem jeweiligen Bewertungsmaßstab des Bewertenden überlassen geblieben, wie gewertet wird. Z.B. hätten Angehörige ja die sodann ermordeten Opfer für lebens- und liebenswert halten und zu Hause aufnehmen bzw. versorgen können - ohne dass irgendwelche Transferleistungen als „Belastung der Allgemeinheit“ hätten gewähnt werden können.

Nein, wer auf diese Nazi-Redeweise reinfällt, täuscht sich über die Funktion dieser Rhetorik, die nur rationalisierende Garnierung war, und kann nicht mehr erkennen, dass tatsächlich eine Gattungsschranke** errichtet worden war. Es ging den Ärzte-Nazis und dem mitgezogenen Mainstream sozusagen „nur“ um die Beseitigung von Nicht-Menschen, phantasiert als Krebsgewebe. So wurde das Morden beim Nürnberger Ärzteprozess von den Tätern selbst erklärt. Das war nicht nur Verteidigung, es war deren Überzeugung, nur die blutigen Hände, die man dabei bekam, störten etwas. Wie Handschuhe wurde diese blutige Oberfläche abgestreift und kurz danach wurden in den 50er Jahren die Hände durch eine kleine Veränderung in den Buchstaben in Unschuld gewaschen: aus psychiatrischer Erbhygiene war psychiatrische Genetik geworden und dieselbe Ideenlehre konnte als alter Wein in neuen Schläuchen weitergehegt werden. Leider schrieb 1985 sogar Klaus Dörner in „Irren ist menschlich“***:
„Ebenso konnte sich die Genetik von ihren Ideologien befreien und dadurch ihre wirkliche Bedeutung vor allem für die Prävention zeigen.“

Warum wurde der von den Nazis geschickt gewählte Euphemismus „Euthanasie“ zwar regelmäßig in Anführungszeichen geschrieben, aber nicht verstanden, was mit der Wortwahl beabsichtigt wurde? Weil das Konzept, es gäbe Menschen und Geisteskranke, weiter geteilt wurde. Die garnierende Rede von „Lebensunwertem“ erlaubte die Moral negierende Behauptung, es habe sich bei der Triebfeder um typisch kapitalistische Wertgesetzmäßigkeiten gehandelt, begründet in den Eigentumsverhältnissen an Produktionsmitteln, es gäbe ein ökonomisches Kalkül für das Morden versus eines Mangels an christlich gefärbtem Paternalismus, der dem Geschehen zugrunde gelegen habe. Resultat: eine Verkennung, mit dem das Morden als eine Vernachlässigung der Lebenserhaltungspflicht konzeptionalisiert wurde und nicht als ein Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht, das es tatsächlich war! So konnte der Unterschied zwischen einer Selbsttötung und einem Mord verwischt werden, um das psychiatrische Regime unangetastet zu lassen; das systematische Massenmorden wurde zu einer Art „Übertreibung“ verharmlost. Denn eine Kernaufgabe psychiatrischer Fremdbestimmung ist die aus einer Lebenserhaltungspflicht abgeleitete Bestrafung, die Verfolgung und Unterdrückung von Selbsttötungsabsichten, wenn diese bemerkbar werden.

Dieser Konflikt ist bei der Diskussion um das Patientenverfügungsgesetz erneut aufgebrochen und wurde 2009 durch den Gesetzgeber zugunsten der Selbstbestimmung entschieden. Die Folge ist nicht nur, dass man sich mit einer speziellen Patientenverfügung, der PatVerfü, jeder psychiatrischen Diagnose und somit Misshandlung rechtswirksam entziehen kann, sondern auch, dass letztes Jahr vom Bundesverfassungsgericht Gesetze zur Legalisierung psychiatrischer Zwangsbehandlung als nicht verfassungskonform genichtet wurden. Eine Folge dieser Entscheidung ist wiederum, dass am 20.6.2012 der Bundesgerichtshof jeder Zwangsbehandlung die betreuungsrechtliche Legitimationsmöglichkeit entzogen hat.

Diese Situation als eine riesengroße Chance und nicht etwa als Bedrohung zu verstehen, ist der Vorschlag, den ich hiermit in die Debatte bringen möchte.

Rene Talbot

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* Diese Vertauschung von Täter und Opfer wird besonders deutlich, wenn Nazis als "Wahnsinnige" bezeichnet werden, z.B. Rassenwahn im Nationalsozialismus oder wenn versucht wird, Anders Behring Breivik zu psychiatrisieren. Damit wird verdunkelt, dass es gerade die "Wahnsinnigen" waren, die als erste und letzte dem systematischen Massenmord der Ärzte-Nazis zum Opfer fielen. Es wird versucht, alles entpolitisiert nur als Geschehen unter Aliens zu exterritorialisieren.

** Mit einer Gattungsschranke fällt automatisch auch das Mordtabu

*** Zitiert aus der zweiten Auflage der völlig neubearbeiteten Ausgabe von "Irren ist menschlich. Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie", Seite 478

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