Sehen Sie nicht erste Fortschritte gegenüber dem bisherigen Zustand
durch das Urteil des BVerfG?
René
Talbot:
Statt die menschenrechtliche Dimension und das Folterverbot
zum Angelpunkt des Urteils zu machen, wird vom BVerfG also sofort
die Gummidehnbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
geltend gemacht. Damit wird der interpretatorischen Willkür
nahezu schrankenlos Tür und Tor geöffnet.
Im Gegensatz dazu haben die Psychiatrie-Erfahrenen immer vorgetragen,
dass es um
eine folterartige Behandlung geht. Sie ist immer und unter allen
Umständen verboten. Folter, sowie andere grausame, unmenschliche
oder erniedrigende Behandlung, kann kein Gesetz normieren und kann
und darf keine Richterin und kein Richter rechtfertigen. Sie nötigt.
Geht es hier aber nicht um die Gesundheit der Betroffenen?
René
Talbot:
Diese Verletzung der Menschenrechte kann durch kein angebliches
"Recht auf Gesundheit" gerechtfertigt werden. Das hat
das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte 2017 endlich klargestellt,
ausführlich ist das hier
erklärt.
Kann der Richtervorbehalt, den das Bundesverfassungsgericht festgelegt
hat, die Macht der Ärzte begrenzen oder ist es nur eine Verlagerung
von den Ärzten auf die Justiz?
René
Talbot:
Nein, es bleibt beim bekannten Zusammenspiel des Ärzte-Richter-Filzes,
eine doppelte Verantwortungsentlastung, weil der Arzt immer behauptet,
der Richter hat es entschieden und der Richter behauptet, es sei
eine medizinische Notwendigkeit.
Durch den Hinweis auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz,
wird der Richtervorbehalt nur zur Legitimationsgleitbahn, um die
misshandelnde Fixierung dann noch unangreifbarer zu machen, weil
nur in extrem krassen Einzelfällen ein anderer Richter dem
legalisierenden Richter widersprechen wird, wenn es nur um eine
Frage der Verhältnismäßigkeit geht.
Es soll nach dem Urteil ein richterlicher Bereitschaftsdienst eingerichtet
werden, der über Fixierungen in der Psychiatrie entscheidet.
Allerdings ist der nachts nicht besetzt. Sehen Sie hier Gefahren,
dass am Ende doch die Ärzte entscheiden?
René
Talbot:
Die Ärzte werden weiter immer entscheiden und sich, wie
bei der Zwangsbehandlung, gegebenenfalls auch nachträglich
die richterliche Zustimmung holen. Insbesondere ist die Beweislage
zum verzweifeln, wenn man ans Bett angebunden daliegt.
Wie soll man als vereinzelter Mensch dann in so einer ohnmächtigen
Situation eine Klage bzw. Beschwerde dagegen führen? Die dokumentationsführende
Gewalt ist ausschließlich beim medizinischen Personal. Das
arbeitet als Racket
und unterstellt sich gegenseitig automatisch gutes Handeln, wie
z.B. die lange unaufgedeckt gebliebenen Morde durch Pflegepersonal
beweisen.
Sie kritisieren den grünen Sozialminister von Baden-Württemberg
Manfred Lucha,
der den Richtervorbehalt in der Praxis begrüßt hat*. Sehen
Sie bei Politikern generell wenig Sensibilität gegenüber
den Menschenrechten von Psychiatriepatienten?
René
Talbot:
Ja, ganz eindeutig, denn das nahezu gesamte politische Personal
hat es seit 9 Jahren, trotz mehrfacher Hinweise, abgelehnt, die
Behindertenrechtskonvention
mit deren Verbot
der psychiatrischen Zwangsmaßnahmen umzusetzen.
Auch die entsprechenden Aufforderungen von Seiten der UN haben daran
nichts geändert. Die UN wird ignoriert, als wäre sie unmaßgeblich.
Und darin wird die Politik nun auch noch durch das BVerfG bestärkt:
In seiner Entscheidung ab
Randummer 90 erklärt es die UN zur praktisch vernachlässigbaren
Größe - offensichtlich ist die UN, zumindest in unserem
Bereich, nur für Showeffekte gut.
Sie kritisieren, dass in deutschsprachigen psychiatrischen Fachzeitschriften
wieder darüber diskutiert wird, ob Elektroschocks sinnvoll und
machbar sind. Können Sie einige Beispiele nennen?
René
Talbot:
Wer sich unbedingt Elektroschocken lassen will, soll das in
einer Patientenverfügung autorisieren, aber es wird das gewaltsame
Elektroschocken, das psychiatrische Elektroschocken als Zwangsmaßnahme
nun ganz offen als "wissenschaftlich gegründet" in
folgenden Publikationen propagiert: Dr. Jakov Ganther und Prof.
Jochen Vollmann vom Institut
für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin in Bochum
tun dies in der Zeitschrift Psychiatrische
Praxis (Ausgabe 44(06), 2017, Seiten 313-314) und Dr. David
Zilles von der Uniklinik Göttingen und Matthias Koller, Richter
am Landgericht in Göttingen, propagieren sie in der Zeitschrift
Der
Nervenarzt (März 2018, Band 89, Ausgabe 3, S. 311-318).
Es gibt offensichtlich da keine Schamgrenze mehr.
(Peter
Nowak)
*
Der Sozialminister von Baden-Württemberg, Manfred Lucha,
beweist in seinen Kommentaren, was für ein hemmungsloser Opportunist
er ist. Vor der Urteilsverkündung wird er am 24.7. um
3.18 Uhr in diesem Kommentar gegenüber der Tagesschau so zitiert:
In
der Praxis sei der Richtervorbehalt ungeeignet. Überhaupt:
Hat der Staat nicht genug getan, um den Graubereich in den Psychiatrien
zu regeln? „Unser Gesetz ist im Kern ein Hilfe- und Befähigungsgesetz“.
Quelle: Tagesschau-Meldung
hier
Nach
der Urteilsverkündung weht sein Fähnchen auf einmal für
einen gerade eben noch für "ungeeignet" befundenen
Richtervorbehalt und er wird von "Gesundheit.de"
folgendermaßen zitiert:
Der
baden-württembergische Sozialminister Manfred Lucha (Grüne)
sagte nach der Urteilsverkündung, er begrüße, dass
die Verfassungsrichter in dieser Frage die Rechtslage präzisiert
hätten. "Alles, was einer rechtlichen Absicherung solcher
Maßnahmen dient, ist letztlich auch in unsrem Interesse",
ergänzte er.
Quelle hier: Nachricht
in Gesundheit.de
Ist es
übertreiben, wenn man so einen schlagartigen Meinungswechsel
an einer wesentlichen Stelle - unseren Grundrechten - charakterlosen
Opportunismus nennt?