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Diskurse des Wahnsinns.
Die Zwangs-Psychiatisierung sehen manche Kritiker als eine Verletzung
der Menschenrechte.
(Bild: Sabine Adorf/version)
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Frankfurter Rundschau Donnerstag,
12. August 1999 - Seite 6 - Schule und Hochschule
"Der
Lehrstuhl für Wahnsinn ist Wirklichkeit geworden"
Davon konnte Michel Foucault nur träumen:
Autonome Seminare über "Verrückte Diskurse" an der FU Berlin
Von Peter Nowak
Die Rhythmen der Trommel
eines Bongospielers dröhnen durch den Hörsaal. Ein großes Transparent
verdeckt eine Wand fast komplett. Die Studierenden lachen und scherzen
ausgelassen. Die Atmosphäre erinnert eher an eine Streikparty als
an eine Vorlesung. Augenblickliche Ruhe tritt ein, als René Talbot
die wohl ungewöhnlichste Seminarreihe an der Freien Universität (FU)
Berlin mit einigen einfahrenden Worten eröffnet.
„Aufklärung tut Not,
deshalb ein Lehrstuhl für Wahnsinn an dieser Universität. Damit vervollständigt
sich heute mit dem Beginn dieser Seminare und unserer anschließenden
Feier ein Gedanke, der vor beinahe 50 Jahren von Foucault in die Welt
gesetzt wurde: Der Lehrstuhl für Wahnsinn ist Wirklichkeit geworden."
Michel Foucault brachte
in den fünfziger Jahren seine Freunde noch mit der Ankündigung zum
Lachen, eines Tages einen „Lehrstuhl für Wahnsinn" am Collége des
France innezuhaben. Was dem Meister versagt blieb, setzten im Frühjahr
1998 in Berlin drei psychiatrie-kritische Organisationen in die Tat
um. Der Lehrstuhl für Wahnsinn wurde am Rande des mit internationaler
Besetzung in der Berliner Volksbühne laufenden FoucaultTribunals gegründet.
Auf der Anklagebank stand
die Zwangspsychiatrisierung, die nach dem Votum der Jury als Menschenrechtsverletzung
international geächtet werden sollte. „Dazu bedarf es außer rechtlicher
Änderungen erst einmal einer Öffentlichkeit und eines Platzes, von
dem aus man die herrschende Psychiatrie angreifen kann. Ein solcher
Ort par exellence ist die Universität", sagt René Talbot vom Verband
der Psychiatrie-Erfahrenen.
Der Allgemeine Studentenausschuss
der FU zeigte sich begeistert von der Idee eines neuen Lehrstuhls
für Wahnsinn und forderte die Universitätsverwaltung per Beschluss
auf, das Vorhaben zügig zu unterstützen und den Initiatoren ein voll
ausgestattetes Sekretariat zu stellen.
Doch die Realität sah
anders aus. Nach dem Gründungsakt begann ein Hürdenlauf durch die
universitären Institutionen, an den sich Talbot nur noch ungern zurück
erinnert. „Die anwesenden Professoren in der Lehrkommission des Fachbereichs
Philosophie haben sich weder inhaltlich noch formal angemessen mit
den drei vom Lehrstuhl für Wahnsinn eingereichten Seminar-Vorschlägen
auseinandergesetzt", erregt sich Talbot und zitiert aus einem Schreiben:
„Gemäß dem Beschluss der Lehrkommission bin ich beauftragt, Ihnen
mitzuteilen, dass Ihr Kollektiv-Lehrauftrag aus formalen Gründen abgelehnt
wird. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Ihrern Themenkomplex
hat nicht stattgefunden."
Die Vorsitzende der Lehrkommission,
Maike Paeßens, kann die ganze Aufregung nicht verstehen. „Die vom
Lehrstuhl des Wahnsinns benannten Lehrenden hatten keinen Hochschulabschluss.
Daher mussten wir den Antrag aus formalen Gründen ablehnen, bevor
es überhaupt zu einer Auseinandersetzung mit den Inhalten kommt."
Privat begrüßt sie die Initiative und hofft, dass sie auch als autonome
Seminare weiterhin für die Bereicherung des Uni-Angebots sorgen werden.
Tatsächlich waren die
drei vom Lehrstuhl für Wahnsinn im Sommersemester 1999 angebotenen
Seminare gut besucht und die Studierenden bis zum Schluss mit Eifer
bei der Sache. Mit der Produktion des Wahnsinns und der Rolle, die
dabei naturwissenschaftliche Modelle der Sezierung der Vernunft spielen,
beschäftigte sich Elke Heitmüller im Seminar „Verrückte Gesellschaft".
Fritz Joachim Rudert widmet sein Seminar dem Leben des heute weitgehend
in Vergessenheit geratenen autodidaktischen Philosophen und Sprachkritikers
Fritz Mauthner. Mit den Fragen der mathematischen Logik beschäftigte
sich René Talbot in seinem Seminar „Implikationen der Annahme von
Nichtlokalität".
Im kommenden Wintersemester
wird der Lehrstuhl für Wahnsinn zwei Seminare anbieten, die sich mit
der Rolle der Gentechnologie beschäftigen. Etwas Akademischer wird
es bei Elke Heitmüller zugehen. „Mit Blick auf die neuesten Entwicklungen
der Biotechnologie lädt das Seminar ein, mittels diskursanalytischen
Verfahren einen Blick zurück - auf die Geschichte des Wahnsinns -
zu werfen", heißt es in der Ankündigung.
Unter dem Titel „Radikale
Ausgrenzung" will Talbot das Comeback der biologischen Psychiatrie
kritisch unter die Lupe nehmen. Auch für das Sommersemester 2000 sind
die Seminarpläne bereits in der Schublade. Als Unterstützer hat der
Lehrstuhl für Wahnsinn dafür den Politologie-Professor Wolf-Dieter
Narr gewonnen.
Manche Studierende wollen
zwar den Status des autonomen Seminars ohne Scheinvergabe beibehalten,
weil es das studentische Engagement fördere. René Talbot will allerdings
weiter um die institutionelle Anerkennung der Seminare kämpfen. Einen
Teilerfolg hat er schon errungen, die Kursangebote finden sich unter
der Bezeichnis „Verrückte Diskurse" im offiziellen Vorlesungsverzeichnis
der Freien Universität.