"Direkte Aktion", Nov./Dez. 2006

Im toten Winkel
Interview mit René Talbot über das System der Zwangspsychiatrie


Unabhängig davon, dass Menschen mit psychischen Problemen konfrontiert sind und deshalb eine wie auch immer geartete (therapeutische) Hilfe benötigen bzw. verlangen, stellt sich das gegenwärtige Psychiatrie-System als ein Apparat dar, innerhalb dessen nicht im geringsten gewährleistet ist, dass Menschen nicht in willkürlicher Weise Opfer von Zwangsbehandlungen und Gewaltmaßnahmen werden. Noch immer ist in Deutschland das Psychiatrie-System auf einem Fundament gebaut, dass keine nennenswerte Kontrolle zulässt. Ein unkontrolliertes System, dass jederzeit und umfassend die Verweigerung von Menschen- und Bürgerrechten ermöglicht, stellt "überall eine Bedrohung der individuellen und kollektiven Freiheit" dar, so das Mehrheitsvotum des Russell-Tribunals 2001. Noch immer hat sich nichtsgrundlegend an dieser Situation geändert. Wir sprachen in diesem Zusammenhang mit René Talbot, Mitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener und seit Jahren aktiv in der Irren-Offensive, über Probleme der Zwangspsychiatrie

.- DA: Du bist seit vielen Jahren in Betroffenen-Initiativen tätig. Welches Interesse steckt hinter dieser Form der Selbstorganisation?
RT: Da Ihr mich fragt, gebe ich eine Antwort, die für mich zutrifft, daneben mag es noch viele andere Interessen geben, die zu Selbstorganisationen führen. Ich verstehe das psychiatrische System, insbesondere seinen ihn fundierenden Zwangs- und Gewaltapparat, als ein politisches Problem. Denn die Zwangs- und Gewaltmaßnahmen werden durch Gesetze legalisiert, die zwar den Grund- und Menschenrechten - insbesondere dem Verbot der Folter und der Gedankenfreiheit widerspräche, aber leider trotzdem breite Billigung erfahren.

Die Zwangspsychiatrie ist demzufolge im Kern ein politisches Problem. Politisch kann man längerfristig nur mit anderen gemeinsam etwas verändern, auch wenn beispielgebende Einzeltaten mitunter Leuchtfeuer setzen. Für die notwendige Kontinuität einer beharrlichen Durchsetzung der Menschenrechte in diesem durch Totschweigen zum schwarzen Loch gewordenen Bereichs bedarf es einer Gruppe. Die Irren-Offensive hatte letztes Jahr ihre 25-Jahr-Feier, ein deutlicher Beweis für die Ausdauer unseres Engagements, das inzwischen auch Wirkung zeigt. Die Entwicklung unserer Gruppe ist sehr gut anhand unserer Zeitungen zu verfolgen, die wir alle im Internet zugänglich gemacht haben(1).

- DA: Ein wesentlicher Teil eurer Arbeit war stets die Entwicklung von Konzepten, mit denen sich Betroffene besser zur Wehrsetzen können. Welche Mittel haben sich dabei als erfolgreich herausgestellt?
RT: Die zur Zeit einzig wirklich empfehlenswerte Methode ist, sich mit einer Vorsorgevollmacht (Vo-Vo) (nun in der Form eines speziellen Typs einer Patientenverfügung, PatVerfü - siehe www.patverfue.de) gegen psychiatrische Gewaltmaßnahmen abzusichern(2). Leider ist dieses Schlupfloch mit einigen Wenn und Aber verbunden, wenn es wasserdicht sein soll. So muss es z.B. eine bedingte VO-VO sein, die dann aber sofort in Kraft ist, wenn psychiatrische Zwangsmaßnahmen auch nur angedroht werden. Das Original der Vollmacht muss sich in Händen der Bevollmächtigten befinden, die dann auch sofort und entschlossen per Fax verbindliche Freilassungsanweisungen geben müssen.

Um die VO-VO gerichtsfest zu machen, muss ein/e überwachungsbevollmächtigte/r RechtsanwältIn in der VO-VO festgeschrieben worden sein, denn nur dann kann das Gericht nicht mit Hilfe eines Überwachungsbetreuers die VO-VO und die Anweisungen des Bevollmächtigten zunichte machen. Außerdem ist die VO-VO wirkungslos, wenn man als Bevollmächtigte Personen auswählt, die bereitwillige Freunde der Psychiatrie sind, da diese Personen dann Gewaltmaßnahmen zustimmen, auch wenn sie sich dabei selber zu "besseren Vormündern" phantasieren.

Alle Formulare und Muster (nun in der Form eines speziellen Typs einer Patientenverfügung, PatVerfü - siehe www.patverfue.de), wie man sie ausfüllt, sind im Internet frei zugänglich(3). Inzwischen gibt es das Ganze auch als Rundum-Sorglos-Paket in professionalisierter Form mit Rechtsschutzgarantie(4).Wenn man keine VO-VO hat, dann bleibt einem nur noch übrig, aus dem psychiatrischen Gefängnis abzuhauen und sich dann irgendwie wie ein Illegaler über Wasser zu halten, da man keine Sozialhilfe bekommen kann, solange ein gerichtlicher Einsperrungs-Beschluss besteht. Dabei muss man sich allerdings ohne Auffälligkeiten in der Öffentlichkeit bewegen, weil man in keine Polizeikontrolle geraten darf.

Auch hat man erheblich Schwierigkeiten, an Drogen zu kommen, wenn man damit - in aller Regel - in der Psychiatrie gewaltsam angefixt wurde und dann nicht so einfach alles Ratz Fatz absetzen kann. Abzuhauen ist also die wirklich "harte Tour", die meiner Erfahrung nach auch nur klappt, wenn man wirklich gute Verbündete hat, die einem weiterhelfen und nicht wiedereinweisen wollen, selbst wenn man mal nervig ist. Gute Tipps für die "harte Tour" gibt es in der Weglauffibel im Internet(5).

- DA: Auch vor Gerichten gab es immer wieder Teilerfolge, die schlimmere Auswüchse zumindest eindämmen oder abwenden konnten. Andererseits gab es immer wieder gesetzliche Vorstöße, die zeigten, dass die allgemeine Lage jederzeit verschärft werden kann. Wie beurteilst du die aktuellen Tendenzen?
RT: Um es kurz zu machen - nur mit einer VO-VO hat man einen rechtlichen Hebel, um gegen die brachialen Willkür Maßnahmen der Zwangspsychiatrie etwas auszurichten bzw. sie von vornherein individuell zu verhindern. Unsere Hoffnung ist nun, dass in einem weiteren Zwischenschritt eine gesetzliche Regelung der Patientenverfügung(6) das Schlupfloch der VO-VO zu einem Scheunentor erweitert. Das geht aber nur, wenn der Gesetzentwurf der Justizministerin in den folgenden Punkten eins zu eins umgesetzt wird:
a) die Patientenverfügung auch in nichttödlichen Krankheitsphasen uneingeschränkt gilt.
b) die Rechtsverbindlichkeit der Verfügung gewährleistet wird: Betreuer wie Bevollmächtigte müssen an den schriftlich erklärten Willen gebunden sein.
c) der im Referentenentwurf der Justizministerin vorgeschlagene § 1904 (4) wortwörtlich erhalten bleibt:"Ein Bevollmächtigter kann in eine der in Absatz 1 Satz 1 oder Absatz 2 genannten Maßnahmen nur einwilligen, sie verweigern oder die Einwilligung widerrufen, wenn die Vollmacht diese Maßnahmen ausdrücklich umfasst und schriftlich erteilt ist.

Die Genehmigung des Vormundschaftsgerichts ist nicht erforderlich. "Mit dieser gesetzlichen Regelung könnte eine einfache Patientenverfügung rechtswirksam eine Option aus dem Zwangssystem gewährleisten. Danach wäre der letzte Schritt aus dem therapeutischen Terrorstaat nur noch eine Frage der Zeit: Dann werden alle Sondergesetze, die psychiatrische Zwangsmaßnahmen legalisieren, abgeschafft worden sein, und man kann sich nur noch individuell mit einer schriftlichen Vorausverfügung in solche Maßnahmen (Diagnostizieren einer"Geisteskrankheit", Einsperren, Fixieren, Elektroschocken und Zwangsspritzen) hineinoptieren.

- DA: Das psychiatrische System wird in der Öffentlichkeit weitestgehend akzeptiert, ohne grundlegende Fragen daran zu richten. Die antipsychiatrische Kritik dagegen stellt nicht nur die "therapeutischen" Maßnahmen in Frage, sondern verweist auch auf die Funktion der sozialen Maßregelung. Welche Interessen liegen demzufolge dem psychiatrischen System zugrunde?
RT: Die breite gesellschaftliche Billigung der psychiatrischen Misshandlungen verweist auf eine tief sitzende Angst vor der Freiheit des Anderen. Es sind ja immer die Anderen, die zu "psychisch Kranken" phantasiert werden, obwohl es "psychische Krankheiten" gar nicht gibt. Die Funktion der psychiatrischen Verleumdungsdiagnosen hat Thomas Szasz meines Erachtens am besten beschrieben:"wenn man Menschen aus der sozialen Ordnung ausgrenzen will, muss man dies vor anderen, aber insbesondere vor einem selbstrechtfertigen. Also entwirft man eine rechtfertigende Redewendung.

Dies ist der Punkt, um den es bei all den hässlichen psychiatrischen Vokabeln geht: Sie sind rechtfertigende Redewendungen, eine etikettierende Verpackung für "Müll"; sie bedeuten "nimm ihn weg", " schaff ihn mir aus den Augen", etc. Dies bedeutete [z.B. auch] das Wort "Jude" in Nazi-Deutschland, gemeint war keine Person mit einer bestimmten religiösen Überzeugung. Es bedeutete "Ungeziefer", "vergas es". Ich fürchte, dass "schizophren" und "sozialkranke Persönlichkeit" und viele andere psychiatrischdiagnostische Fachbegriffe genau den gleichen Sachverhalt [eines strategischen Etiketts] bezeichnen; sie bedeuten "menschlicher Abfall", "nimm ihn weg", "schaff ihn mir aus den Augen"."("Interview with Thomas Szasz", in: The New Physician, 1969)

- DA: Jede Institution wirkt bekanntlich gegen ihre eigene Überflüssigwerdung an. Im Falle der Psychiatrie heißt das, den Zustand zu reproduzieren, der der eigentliche Anlass ihrer Existenz ist. Und in der Tat erweist sich das System als "Drehtürpsychiatrie", die Menschen von sich abhängig macht. Was sind die typischen Prozesse, die diesen Kreislauf bedingen?
RT: Es geht um eine brachiale Entrechtungskette:
a) Zwangsdiagnose einer nicht existierenden"psychischen Krankheit" (siehe auch die FAQ(7));
b) Einsperren und Zwangsdrogisieren;
c) Entlassung nur nach dem erzwungenen Geständnis, einer "Krankheitseinsicht";
d) weiteres Aufbegehren wird mit einem dichten Überwachungsnetz von "sozialpsychiatrischen Diensten" unterbunden, die blockwartartig die Kontrolle in der Gemeinde übernommen haben.

Dabei sind ihnen die sog. "komplementären Einrichtungen" behilflich, die z.B. als "betreute Wohngemeinschaften" und "Kontakt- und Beratungsstellen" sekundieren. Ganz schnell geht es dann oft in die Entmündigung, die irreführend seit 1992 "Betreuung" genannt wird. Viele sind darauf reingefallen, dass "Betreuung" Treue zum Betreuten vortäuscht, aber tatsächlich Treue zu den gerichtlich dann vereinfacht legalisierbaren Gewaltmaßnahmen der Psychiatrie meint. Wer in diesen Brunnen gefallen ist, dem ist kaum mehr zu helfen, denn die Gerichte halten brachial an getroffenen Entrechtungsentscheidungen fest. Nur eine frühzeitig abgeschlossene VO-VO kann davor wirksam schützen.

- DA: Psychiatrie-GegnerInnen haben immer wieder das Konzept von Arbeit als Therapie kritisiert. Was verbirgt sich genau dahinter?
RT: Ich habe die Vermutung, dass die Abwehreines Rechts auf Faulheit auch die Grundlage für die Zwangspsychiatrie ist. Um es an einem Beispiel zu erklären: wenn es ein Recht auf Faulheit gäbe, dann müsste man sich nicht mehr eine "Depression" von einem Arzt bescheinigen lassen, wenn man nicht arbeiten will. Die ganzen absurden "Eingliederungs-" und "Rehabilitations-Maßnahmen" sind alle daran ausgerichtet, dass nur wer arbeitet, auch "gebraucht" wird, und nur unter dieser Prämisse als Mensch, als Subjekt mit eigenem Willen gezählt wird. So exekutiert sich eine protestantische Arbeitsethik Hand in Hand mit den psychiatrischen Gewaltmaßnahmen. Wir dagegen fordern eine repressionsfreie Grundsicherung für alle.

- DA: Wie sieht es mit der Verantwortung der im Psychiatriebereich Tätigen aus? Inwieweit ist eine Akzeptanz der ärztlichen Vorgaben verbreitet und inwieweit wird sich dagegen zur Wehr gesetzt, fragwürdige Behandlungsmethoden umzusetzen?
RT: Zumindest dringt von irgendwelchen Aufmüpfigkeiten nichts zu uns. Menschenrechts-Achtsame können sich auch ganz einfach durch die Versetzung auf eine nichtpsychiatrische Station der Beteiligung an den Misshandlungen entziehen. Es reicht, wenn die Psychiatrie-Chefs abgebrüht sind. Das ist im übrigen in allen Institutionen, in denen gefoltert wird, so. Wo hat man je von einem Aufstand der Folterknechte gehört?

- DA: Anscheinend steht nicht nur die Wahrnehmung der Öffentlichkeit der von Betroffenen entgegen, sondern auch die der direkt in diesem Bereich Tätigen? Siehst Du dennoch Perspektiven für ein gemeinsames Agieren, von Betroffenen und PflegerInnen zum Beispiel?
RT: Ich lasse mich da gerne überraschen. Bis jetzt sehe ich nur bei "Ungesund leben" dafür Ansatzpunkte(8).

- DA: Danke für das Interview.

Anmerkung: Die hier geäußerten Ansichten entsprechen nicht notwendigerweise denen der Redaktion.


Anmerkungen

(1) www.antipsychiatrie.de
(2) Eine VO-VO ist eine Vollmacht an eine Person, die damit bevollmächtigt wird, Maßnahmen, die man getan bzw. unterlassen sehen will, anzuordnen, wenn man selbst für inkompetent erklärt wurde, solche Anordnungen zu treffen, oder physisch unfähig ist, eine Zustimmung oder Ablehnung zum Ausdruck zu bringen. Die VO-VO hat eine gesetzliche Grundlage im § 1896, Abs. 2BGB.
(3) www.patverfue.de
(4) www.initiative-selbstbestimmung.de
(5) www.psychiatrieerfahrene.de/weglauffibel.htm
(6) Eine Patientenverfügung ist eine Anweisung, welche Maßnahmen man getan bzw. unterlassen sehen will. Im Gegensatz zur VO-VO ist sie bisher rechtlich nahezu unverbindlich.
(7) www.psychiatrieerfahrene.de/faq.htm(8) www.ungesundleben.org

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