Warum sollen wir gebraucht werden?
Psychiatrie- und Arbeitskritik

Das "Contra" von René Talbot zu Karl Bubenheimer (Geschäftsführer von INTEGRA, gemeinnützige GmbH zur Förderung von Behinderten) in einer Veranstaltungsreihe von Teilhabe e.V., Initiative anders arbeiten, Netzwerk für politische Selbsthilfe, Menschenwürde und Arbeitswelt, Franz Künstler e.V., Initiative für ein Bethanien:
Das Schwindelerregende über arbeiten

am Donnerstag, 17.5.07 um 19.30 Uhr im Mehringhof, Berlin, moderiert von Lothar Eberhardt

 

1. Vorstellung der Initiative bzw. der Gesellschaft

Kurz zur Geschichte:
Seit 1980 aktiv hatte die Irren-Offensive (I.O.) 2005 ihre 25 Jahr Feier
Die I.O. hat eine wechselvolle Geschichte. Trotz ca. 10 Jahren Staatsgeldern, war sie immer eine politische Gruppe, aber am Anfang eher mit einem Ansatz intern-medizinischer Kritik, also Kritik an der Behandlung, insbesondere den Psychopharmaka.
Seit einer USA Fahrt 1994 zu Kate Millett gab es eine Verschiebung weg von der medizinische Kritik hin zu einem politisch-rechtlichen Ansatz und der Konzentration auf den Zwang, der offen und brutal in der Zwangspsychiatrie praktiziert wird. Im Zuge dessen sind wir seit 2002 auch in der Satzung ein Menschenrechtsverein geworden. Wir haben internationale Verbindungen, insbesondere durch die International Association Against Psychiatric Assault und eine enge Verbindung zu unserer israelischen Partnerorganisation, der Israeli Association Against Psychiatric Assault.
Wir sind publizistisch mit unserer Zeitung, dem Dissidentenfunk und unseren Domains im Internet aktiv.
Ganz neu: www.zwangspsychiatrie.de mit einer neuen Weglauffibel sozusagen als erste Hilfe.
Im Zuge der Politisierung sind auch die von uns initiierten internationalen Tribunale zu verstehen, das "Foucault Tribunal zur Lage der Psychiatrie" 1998 und das Russell Tribunal 2001.

Zu den Zielen der Irren-Offensive
Wir haben ein klar umrissenes Ziel: die Abschaffung der Psychiatrie in all ihren heimtückischen Formen. Dieses Ziel steht aber nicht im Vordergrund - es ist vielmehr ein Ziel, auf das zurück geschlossen werden kann, weil wir qua Satzung eine Psychiatrie, die auf Zwang und Gewalt basiert, als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, bezeichnen, da, ich zitiere aus der Satzung: "sie Individuen den Status eines Menschen mit seinen unveräußerlichen Menschenrechten vorenthält, indem sie deren Seele auf eine biologisch-medizinische Weise als "krank" bezeichnet und von einer biologisch-medizinischen "geistigen Krankheit" spricht, und damit juristisch alle Arten von Gewalt gegen sie rechtfertigt".

Insofern beruft wir uns in unserem Handeln zentral auf die Menschenrechte und von dieser Basis aus attackieren wir ganz spezifisch Zwang und Gewalt in der Psychiatrie, also das, was Michel Foucault das "Kerkersystem mit Folterregime" genannt hat. Es geht uns also zunächst mal nur um die Abschaffung der Gewaltmaßnahmen der Psychiatrie, oder um es auf einen Begriff zu bringen, die Abschaffung der Zwangspsychiatrie. Ganz konkret hießt das: Abschaffung aller Sondergesetze für Menschen, die von Psychiatern zu "psychisch Kranken" erklärt wurden. Daraus folgt logischerweise, dass eine solche Verleumdung als "psychisch Kranker" nicht mehr gegen das Einverständnis des Betroffenen gemacht werden könnte, und dann erst recht nicht mehr zu einer Akte führen kann, die dem aktenkundig Gewordenen bisher lebenslang anhängt. Diese diagnostische Vergewaltigung wird unmöglich, sobald kein Arzt eine gesetzliche Grundlage bzw. richterliche Genehmigung für eine Zwangseinweisung und damit wiederum logisch verbundene Zwangsbehandlung und Zwangsbetreuung mehr hat. Dann allerdings wird es auch keine Psychiatrie mehr geben, weil sie die scheinbare "Objektivität" nicht mehr erzwingen kann, die für eine Krankheitsdefinition unerlässlich ist. Das Ziel ist also, dass es keine psychiatrischen Sondergesetze mehr gibt, sondern, wenn überhaupt, können psychiatrische Zwangsmaßnahmen nur noch durch ein jeweils individuelles, positives psychiatrisches Testament privatautonom autorisiert werden, etwa wie jedes saldo-masochistische Sexualspiel. Auf dem Weg dahin, ist dann allerdings der umgekehrte Fall auch schon ein Zwischenerfolg, wenn also trotz bestehender psychiatrischer Sondergesetze durch eine Vorausverfügung jede psychiatrische Zwangsmaßnahme rechtsverbindlich untersagt werden kann. Der erste Anlauf dazu war, das so genannte "psychiatrische Testament" als Sonderheft der Irren-Offensive. Da es keine Rechtswirksamkeit erlangte, gelang der Durchbruch an dieser Stelle aber erst 1999 in Zusammenarbeit mit Vertrauensanwälten durch eine spezielle Form der Vorsorgevollmacht, siehe hier.
Dazu später noch mehr.

2. Einführung Psychiatriereform (Lothar Eberhardt)
Es gab in den letzten 20 Jahren eine Psychiatrie-Reform. Wie schätzt Du/Sie das heutige psychiatrische Versorgungssystem ein?

Ich halte diesen Begriff für einen bösen Euphemismus. Der Charakter des Systems ist gerade nicht der eines Versorgungssystems, sondern ein Kerkersystem mit Folterregime, oder -etwas bildlicher gesprochen - eines Straflager.
Kontinuierlich unverändert ist der Zwang und die Gewalt, die in den Psychiatrien ausgeübt wird. Die Kontinuität des Ärzte-Nazi-Massenmords in die Nachkriegszeit hinein will ich hier nicht weiter thematisieren.

Was sind die Problemlagen. Wo bewegt sich das System hin?
Zur Zeit sind zwei entgegen gesetzte Entwicklungen zu beobachten.
Einerseits wird mehr und mehr Verhalten pathologisiert, die Zwangseinweisungszahlen haben sich verdreifacht, über eine Million Menschen sind inzwischen in der BRD mit einer Entmündigungen, irreführend "Betreuung" genannt, völlig entrechtet worden. Diese Entwicklung ist entmutigend und ich will nicht weiter über diese Opferproduktion reden, sondern unsere Erfolge in den Mittelpunkt stellen:
Seit den Tribunalen hat sich in der westlichen Welt 1999 erstmal ein Schlupfloch aufgetan - durch eine Reform im Betreuungsrecht, das wie vorhin schon erwähnt mit der Vorsorgevollmacht einen rechtswirksamen Schutz gegen die Zwangspsychiatrie eröffnet hat.

Stichworte erfolgreicher politischer Arbeit der I.O. sind darüberhinaus:
Kampagne gegen ambulante Zwangsbehandlung im Betreuungsrecht (2003/4):
Kampagne gegen ambulante Zwangsbehandlung Bremen (2005)
Rezepturteil - der BGH Beschluss vom 1.2.2006
Kampagne gegen Zwangsbehandlung nach Betreuungsrecht, Celler Urteil
Kampagne gegen Betreuungsbehördengesetz (2006)
Protest Dresdner Hygiene-Museum gegen das Vergessen von mindestens 20.000 Mordopfern nach 1945
Kampagnen zur Patientenverfügung
UN-Behindertenrechtskonvention

3. Einführung Arbeitsthema (Anne)
Ist Arbeit ein gesund- oder krankmachender Faktor?
Welche Rolle sollte Arbeit für Psychiatriebetroffene spielen?
Sollten Sie die Möglichkeit haben, sich in den 1. Arbeitsmarkt zu integrieren, sollte sie im Beschäfigungssystem von Integrationsfirmen etc. verbleiben oder sollten sie ein Recht auf Faulheit oder auf ein bedingungsloses Grundeinkommen haben?
Warum sollen wir gebraucht werden?
Sollen wir zu fröhlichen Parasiten werden?

Mit dem Wort "Topographie" kann man gedankliche Logik als Landkarte [unter den Bedingungen eines zweidimensionalen Raumes] veranschaulichen, anhand derer sich die Bedeutung der Begriffe, die man verwendet, besser erläutern lässt.

Das Reich der Notwendigkeit:
Also das Überleben sichern - eventuell das sog nackte Überleben.
Die Not macht vielleicht erfinderisch, aber ganz sicher schafft sie zwingende Verhältnisse, lässt keine Wahl zu usw.
Die damit einhergehende Topographie der Begriffe umfasst das ganze autoritäre Zwangsinstrumentarium: den Schmerz, die Mühsal, das sich Plagen, zielgerichtetes - oft auch als "rational" Bezeichnetes - vorausplanendes Handeln , arbeitsteilig, effizient, geordnet und gefügig etc. Hier ist auch die Klammer zwischen Zwangsarbeit und Zwangspsychiatrie zu suchen.

Dem steht das Reich der Freiheit gegenüber, kurz der Faulheit, eben unbezahlte Tätigkeit und Untätigkeit.
Ich verkürze die Diskussion um den Aspekt, wenn es kein Geld gäbe - sobald es Tausch- und einen Äquivalenzmaßstab gibt, finde ich es müßig, daraus eine Mystifikation zu machen. Ums Geld geht der Streit und die Auseinandersetzungen. Deshalb halte ich auch jede Diskussion um den Arbeitsbegriff für völlig abwegig, weil es nur bei der bezahlten Arbeit einen Streit gibt: dass auch Schnaufen eine Tätigkeit ist, ist einfach banal und wird auch nicht weniger banal, wenn man es Arbeit nennt.

Unter der Voraussetzung von Nicht-Krieg, bzw. einem längeren - eher mehr als weniger - Frieden, entwickeln sich die Produktivkräfte mindestens linear, wenn nicht sogar exponentiell.
Damit geht einher ein umgekehrt proportionales, also gegen Null gehendes, Reich der Notwendigkeit.

Und jetzt fangen, in gewisser Weise aus verinnerlichter geistiger Trägheit, die Probleme an.
Die Rationalisierungen und Mystifikationen, mit denen man die Quälereien des Reichs der Notwendigkeit erträglicher machte, die Ohnmachtserfahrungen, die Demütigungen und Entwürdigungen, wirken als Ideologie weiter - als Arbeitsideologie, insbesondere auf den Begriff gebracht als protestantische Arbeitsethik.
Sie waren gleichzeitig der Zierschleier, der über die unmittelbaren Grausamkeiten des Zwangs und der nötigenden Gewalt geworfen wird, mit der zur Arbeit gepresst wird.
Diesen Formen der repressiven Exekution sollten wir meiner Ansicht nach das Hauptaugenmerk widmen, denn z.B. in Form von Sozialhilfekürzung auf Null tritt die viel geleugnete und verdeckte Gewalt offen zu Tage und wirkt über die gesamte Gesellschaft einschüchternd. Sie induziert einen vorauseilenden Gehorsam.

In einer Befreiung aus dieser einschüchternden Gewalt liegt ein großer emanzipatorischer und zivilisatorischer Fortschritt und um diesen zu erreichen bedarf es einer - ich nenn das mal so -"Avantgarde"

Die Verinnerlichung von "gebraucht werden" als Wertmaßstab und Existenzberechtigung schafft individuell große Probleme, wenn man nicht mehr produktiv, sondern nur noch konsumtiv sein kann/will. Damit geht logischerweise Transferleistungsbezug statt Tausch einher und damit Abhängigkeit, ja das Gefühl von Regression kann sehr berechtigt sein.
Dies sind jedoch reale Ohnmachtserfahrungen, nie und nimmer "Krankheitssymptome", der Machtverlust, durch kein eigenes "Vermögen/Befähigung", eben kein Partner im ökonomischen Tauschprozess zu sein. Zu untersuchen wäre auch, wie durch Geschenke Macht entsteht.

Dagegen steht eine Konzeption von Rechten, Menschenrechten und menschlicher Würde, das genau diesem Abhängigkeitsgefühl von "Beschenkt-werden" entgegensteht, so wie eben Betteln bei uns als entwürdigend verstanden wird. Dies möchte ich zum Ausgangpunkt machen, um inhaltlich im Sinne einer "Proklamation des Jahrhunderts der Parasiten" die Transformation zum "fröhlichen Parasiten" zu fordern.

Die individuelle " Niedergeschlagenheit (als "Depression" medizinalisiert) usw. ist dann als ein bedauerliches Durchgangsstadium, bildlich gesprochen "eine Verdauung", der alten Wertmaßstäbe zu verstehen.
Das Ziel ist, Wege zur Autobiographie, Emanzipation zu öffnen.
Damit würden wir zum Fordern zu kommen, zum "Täter" werden, satt Opfer zu sein, denn logische Grundlage ist das Recht auf Faulheit, also das Ende das arbeiten-wollen Müssens und als minimaler Einstieg dazu, sozusagen reformistisch, eine wirklich repressionsfreie Grundsicherung.

Damit erledigt sich Deine Frage nach dem "gebraucht Werden": Es ist eine Frage aus dem Reich der Notwenigkeit bzw. den Rationalisierungen des Reichs der Notwenigkeit. Sie soll abgelöst werden durch ein unhinterfragbares Recht auf Leben in Würde, also ein Leben in dem man sich selbst auch genüge sein kann.

© René Talbot

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