Das
Wesen der Zwangspsychiatrie und ihre gesellschaftliche Funktion
Von der Psychiatrie wird behauptet und es wird weitläufig auch so angenommen, dass Verhalten, welches als psychiatrische Symptome an Menschen gedeutet wird, individuelle Ursachen biologisch-medizinischer, genetischer oder zumindest psychologischer Natur habe und einer medizinischen Behandlung bedürfe. Dem möchte ich eine andere Sicht entgegensetzen: (Zwangs-)Psychiatrie und Psychiatriekritik ist eine im hohen Maße politische und soziologische und eben keine medizinische Frage. Psychiaterlnnen,
Krankenhauspersonal, Betreuerlnnen und Gesetzgeberlnnen behaupten, zum
Wohle der Betroffenen zu handeln und Hilfe zu leisten. Im Gegensatz zur
ärztlichen Behandlung nicht psychiatrisch diagnostizierter Menschen,
die der Einwilligung der Patientlnnen bedarf, erfolgen ,Behandlung', ,Unterbringung'
und Betreuung' jedoch ohne Einwilligung der Betroffenen und damit ohne
Berücksichtigung dessen, ob diese selber der Ansicht sind, es sei
zu ihrem Wohle. Das gilt sowohl für die moderne' Psychiatrie, als
auch für die Psychiatrie in der Zeit der Nationalsozialisten und
ihrer Vorgänger. Sogar der Mord an Kranken oder angeblich Kranken,
fälschlicherweise als 'Euthanasie' bezeichnet, wurde mit dem Wohl
der Patienten' begründet und als heilender Eingriff' deklariert (vgl.
unten).
Psychopharmaka dienen nicht, wie suggeriert, der Lösung von sozialen Problemen, die in manchen Fällen ungewöhnlichem oder normwidrigem Verhalten zugrunde liegen könnten, sondern sind Drogen, die massiv körperlich, emotional und geistig dämpfen (Neuroleptika) oder auch aufput-schend (einige Antidepressiva des Typs Serotonin- Wieder-Aufnahmehemmer) oder sedierend wirken (Tranquilizer). Trotz der Verdrängung der Kritik durch den herrschenden Diskurs seitens der Ärzteschaft, Pharmaindustrie und anderen, gibt es zahlreiche Veröffentlichungen zum Nachweis der schädlichen Wirkungen von Psychopharmaka und Elektroschocks.1 Eine Psychiatriekritik, die sich für Menschenrechte einsetzt, muss sich aber in erster Linie gegen die Menschenrechtsverletzungen der Psychiatrie wenden und nicht gegen Psychopharmaka im Allgemeinen. Denn: Auf der einen Seite soll es das Recht eines jeden Menschen sein, Drogen zu nehmen, wenn dies freiwillig geschieht, und auf der anderen Seite spielt es weniger eine Rolle, welche Stoffe einem Menschen gewaltsam verabreicht werden, sondern es ist zu kritisieren, wenn sie gewaltsam verabreicht werden. Schon der Einstich einer Nadel gegen den Willen eines anderen ist Körperverletzung. Der Elektroschock, heutzutage beschönigend von der Psychiatrie "Elektrokrampftherapie" (EKT) genannt, erzeugt innere Kopfverletzungen. Es wird ein künstlicher epileptischer Anfall im Gehirn (Gehirnkrämpfe) hervorgerufen, die Teile des Gehirns zerstören bzw. verändern. Gehirnblutungen, kognitive Störungen und Gedächtnisverluste, intellektuelle und emotionale Trübungen etc. sind die Folgen. Die Betroffenen verlassen die sogenannte 'Behandlung' verängstigt und apathisch. Durch die Zwangspsychiatrie werden die Grund- und Menschenrechte der als ,psychisch krank' diagnostizierten Personen erheblich eingeschränkt bzw. außer Kraft gesetzt: In der BRD wird Unterbringung und Zwangsbehandlung über die PsychKG ("psychisch Kranken Gesetze") der Bundesländer und Unter-bringungsgesetze legitimiert bzw. bei Bestehen einer amtlichen Betreuung nach dem Betreuungsgesetz veranlasst. Über eine psychiatrische Diagnose werden Menschen in zwei Klassen' geteilt, wobei die psychiatrisch diagnostizierten Menschen sonderbehandelt' werden. Die oben beschriebene psychia-trische Sonderbehandlung betrifft das Außerkraftsetzen fast sämtlicher Grund-rechte, die in der Verfassung der BRD beschrieben sind verstößt gegen die allgemeinen Menschenrechte der Vereinten Nationen, wie vor allem gegen das Recht auf Menschenwürde, gegen das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit, körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person, das Recht auf Gleichheit und der Freiheit vor Diskriminierung und das Recht auf Meinungs- und Glaubensfreiheit.
Der übliche Rechtfertigungsgrund für Zwangsbehandlung nach den PsychKGs ist die Annahme, es läge die Situation einer erheblichen Selbst- oder Fremdgefährdung' des/der Betroffenen vor. Zu beachten ist hierbei, dass ein Freiheitsentzug vorgenommen wird als eine vorbeugende Maßnahme, mit der Begründung, der/die Betroffene könne in Zukunft gewalttätig werden gegenüber anderen oder sich selber verletzen oder töten, ohne dass eine solche Tat bereits begangen wurde. Darüber hinaus erfahren Menschen Freiheitsentzug und Körperverletzung durch die Psychiatrie auch nach einem Suizidversuch, ungeachtet dessen, dass Selbsttötung rechtlich keinen Straftatbestand darstellt. Ein besonderes Problem stellt darüber hinaus die psychiatrische Forensik dar: Psychiatrisch diagnostizierte und für schuldunfähig erklärte Menschen, die eine strafrechtlich relevante Tat begangen haben, erfahren ebenso eine Sonderbehandlung: Sie werden nicht, wie andere sogenannte ,Straftäterlnnen', durch das Einsperren in ein gewöhnliches' Gefängnis ihrer Freiheit beraubt, sondern der Freiheitsentzug geht noch darüber hinaus: Auch im Maßregelvollzug werden zwangsweise Psychopharmaka verabreicht und sogenannte andere Therapien auferzwungen. Des weiteren ist in der Praxis das Strafmaß für psychiatrisch Entmündigte vergleichsweise höher und die Haftzeiten wesentlich länger als für normale ,Straftäterlnnen'. Die Haftzeit in der Forensik ist abhängig von den in der Regel nur alle zwei Jahre neu aufgestellten 'Gutachten'. Ich möchte hier aber darauf hinweisen, dass das Strafsystem (Strafrecht und Strafvollzug) und die Psychiatrie beides Elemente ein- und desselben Herrschaftssystems sind, dass sich bei beiden ähnliche Muster finden und beide in weiten Teilen den selben Interessen und Zielen dienen. Ebenso wie die Psychiatrie dient das Strafsystem nicht, wie behauptet wird, der Vermeidung von Gewalttaten und einem friedlichen Zusammenleben von Menschen, sondern produziert im Gegenteil sogar Gewalt.2
Die soziale Funktion der Psychiatrie ist im Kern immer dieselbe und die
Motive sind zeitgeschichtlich weitgehend unabhängig. Sie tauchen
lediglich im historischen Kontext in Variationen auf, ebenso wie die Praxis
der Psychiatrie im Laufe der Zeit etwas variiert. NS-Psychiatrie und Kontinuitäten: Der psychiatrische Blick, mit dem Menschen zu Untermenschen' gemacht werden, ist damals wie heute die Grundlage für die Grausamkeiten, die an Menschen begangen werden, die - je nach epochenabhängigem Sprachgebrauch - als ,Irre', Lebensunwerte' oder ,psychisch Kranke' bezeichnet werden. So war die psychiatrische Sichtweise auch Voraussetzung für die nationalsozialistischen Verbrechen am sogenannten ,lebensunwerten Leben', von Psychiatrieinsassen, ,Kranken', sogenannten ,Behinderten' oder ,Asozialen'. Sie führten von Zwangssterilisation bis zur Ermordung in psychiatrischen Gaskammern, Verhungern-Lassen oder Ermordung durch Giftspritzen und bildeten ihrerseits eine Voraussetzung für die Ermordung von Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma und anderen als missliebig erachteten Menschen in den Gaskammern der Vernichtungslager.3 Der psychiatrische Blick ist jedoch ebenso wenig mit den NS-Täterinnen entstanden, wie er mit ihnen gegangen wäre. Ein Zitat von Thomas Szasz in diesem Zusammenhang aus "Interview with Thomas Szasz" in The New Physician, 1969, welches gleichzeitig einen Hinweis auf die Funktion der Psychiatrie gibt: ,,,Schizophrenie' ist ein strategisches Etikett, wie es Jude' im Nazi-Deutschland war. Wenn man Menschen aus der sozialen Ordnung ausgrenzen will, muß man dies vor anderen, aber insbesondere vor einem selbst rechtfertigen. Also entwirft man eine rechtfertigende Redewendung. Dies ist der Punkt, um den es bei all den häßlichen psychiatrischen Vokabeln geht: sie sind rechtfertigende Redewendungen, eine etikettierende Verpackung für ,Müll'; sie bedeuten nimm ihn weg', schaff ihn mir aus den Augen', etc. Dies bedeutete das Wort ,Jude' in Nazi-Deutschland, gemeint war keine Person mit einer bestimmten religiösen Überzeugung. Es bedeutete ,Ungeziefer', 'vergas es'. Ich fürchte, daß schizophren' und ,sozial kranke Persönlichkeit' und viele andere psychiatrisch diagnostische Fachbegriffe genau den gleichen Sachverhalt bezeichnen; sie bedeuten ,menschlicher Abfall',,nimm ihn weg', ,schaff ihn mir aus den Augen'" 4 In ihrer 1920 veröffentlichten Schrift "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens", auf die sich später fast alle berufen, die sogenannte 'Geisteskranke' und andere für 'lebensunwert' befundene Menschen töten werden, rechtfertigten der Freiburger Professor für Psychiatrie und Facharzt für Neuropathologie Alfred Erich Hoche (1865-1935) und der Jurist Prof. Karl Binding (1841-1920) die Tötung von angeblich unheilbar Kranken auch gegen ihr Einverständnis. "Das Argument, daß unheilbar Kranke das Recht auf einen verhältnismäßig schmerzfreien Tod hätten, diente [..] dazu, den Mord an den als minderwertig geltenden Menschen zu rechtfertigen"5. Die Ermordung (angeblich) unheilbar Kranker sei nach Binding/Hoche "keine ,Tötungshandlung im Rechtssinne' ", sondern "in Wahrheit eine reine Heilbehandlung".6 Schon
Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts, weit vor dem
Machtantritt der Nationalsozialisten, war die große Zeit so genannter
rassentheoretischer, rassenhygienischer und eugenischer Ideen in Europa
und auch in den USA, die den Weg zu den nationalsozialistischen Morden
bereiteten. Eine tragende Rolle spielte dabei die Psychiatrie: Die Eugenik
wurde in Deutschland "von akademischen Psychiatern getragen, die
Medizin und Biologie studiert hatten und an staatlichen Heilanstalten
und Universitätskliniken arbeiteten"7."Die
Psychiater teilten die Ansichten ihrer Kollegen - Biologen, Genetzter
und Anthropologen - bezüglich der Degenereichtest der unteren Gesellschaftsklassen"
und darüber hinaus machten sie die Urteile ,Entartung' und ,Minderwertigkeit'
zu "diagnostischen Begriffen"8. Die früheren Verbrechen der Psychiatrie werden heutzutage meistenteils entweder einer längst abgeschlossenen Epoche der Geschichte zugeordnet oder noch immer nicht als Verbrechen verurteilt und die Täterinnen werden geschützt und verehrt. So genießt auch der deutsche Psychiater Karl Bonhoeffer (1868-1948) bis heute in weiten Teilen der Gesellschaft (und selbstverständlich innerhalb der Psychiatrie) hohes Ansehen. Zwar hat er an den NS-Morden selber nicht teilgenommen und diese angeblich auch abgelehnt, er trug jedoch als Richter am Erbobergesundheitsgericht die Verantwortung für die Durchführung zahlreicher Zwangssterilisationen und muss auch aufgrund seiner psychiatrischen Schriften (und seiner Integration ins NS-System) als Wegbereiter für die NS- Morde angesehen werden10.
Ein weiteres Beispiel ist der Umgang mit dem nach der Absetzung des NS-Regimes von 1945- 1949 fortbestehenden Massenmorden in psychiatrischen Anstalten durch verhungern lassen, welches über 20 000 Opfer produzierte, wie Heinz Faulstich in seiner Forschungsarbeit "Hungersterben in der Psychiatrie 1914-1949" belegt. Dies wird bis heute verschwiegen und Bemühungen, es zu thematisieren, werden unterbunden.11 Zwanqspsychiatrie
als Folter: Zwangspsychiatrie entspricht den Kriterien und der
Definition für Folter, welche in der sogenannten Antifolterkonvention'
der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1984 (in Kraft getreten 1987)
beschriebenen werden. Durch die Zwangspsychiatrie werden körperliche
und seelische Schmerzen bzw. Leiden herbeigeführt: Neben den Körperverletzungen
mittels Psychopharmaka und Elektroschocks fügen die Erfahrung von
Entrechtung, Freiheitsberaubung, Gewalt und Ohnmacht, das Eingesperrtsein,
die Fesselung, die Verhinderung eines selbstbestimmten Tagesablaufes,
die Entmündigung durch einen Betreuer und die Ausgrenzung durch die
sogenannte psychiatrische "Diagnose", das Absprechen von Vernunft
und Urteilsfähigkeit und der damit verbundene soziale Abstieg den
Betroffenen große Leiden zu. Darüber hinaus sind willkürliche
Schikanen durch das Krankenhauspersonal wie Beleidigungen, Bloßstellen,
Nicht-ernst-Nehmen, Sich-lustig-Machen und willkürliche Verbote gängige
Praktiken in psychiatrischen Anstalten. Es herrscht ein großes Machtgefälle
zwischen Krankenhauspersonal und Insassen, in dem die Machthaber in einem
quasi rechtsfreien Raum agieren können, d.h. ohne (oder nur sehr
schwer) für Verstöße gegen die (Menschen-)Rechte der Insassen
zur Rechenschaft gezogen werden zu können. Denn: Erstens wird 'Verrückten'
nicht (oder weniger) geglaubt, wenn sie von erlittenen Demütigungen
berichten und zweitens werden willkürliche und nicht nachvollziehbare
Maßnahmen" wie Besuchsverbote, Einsperren in Isolierzimmer
(auch im Gefängnis übliche Foltermethoden) oder Ausgangsverbote
als therapeutische Maßnahmen dargestellt. Die Betroffenen werden
eingeschüchtert, genötigt und gefügig gemacht. Ein weiteres
Merkmal von Folter ist die Erwirkung eines Geständnisses bzw. einer
Aussage. Auf die Zwangspsychiatrie übertragen ist dies die Forcierung
von ,Krankheitseinsicht'. Das Ziel ist die widerstandslose 'Behandlungswilligkeit'.
Gehirnwäsche mittels psychiatrischer Ideologie wird wie folgt praktiziert:
Gestützt durch ihre Glaubwürdigkeit und Autorität in Gesellschaft
und Wissenschaft und durch autoritätsgläubige und oft unwissende
Angehörige, reden Psychiaterlnnen und Krankenhauspersonal auf die
sogenannten "Patienten" ein, die sich, eingesperrt und mit Drogen
benebelt und dazu noch möglicherweise in einer Lebenskrise steckend,
in einer ohnmächtigen Lage befinden. Gebräuchlich angeführt
wird dabei die Lüge, dass "Unbehandelte" ihr Leben lang
chronisch krank bleiben. Bei den Betroffenen stellt sich Furcht vor lebenslanger
Stigmatisierung und Ausgrenzung als 'psychisch Kranke', vor Lebensunfähigkeit,
Wiederholung der erlittenen oder vor gar noch schlimmeren Qualen - zum
Beispiel Verabreichung einer Depotspritze oder von Elektroschocks im Falle
des Nichteinnehmens der Tabletten- und noch längerem Anstaltsaufenthalt
ein.12 "Das Ende der Martern
nur um den Preis sogenannter 'Krankheitseinsicht' führt in Verbindung
mit falschen Hilfsversprechen zu einer breiten Akzeptanz individualisierter
Diese Annahme psychiatrischer Ideologie durch die so Kolonialisierten ermöglicht es, die Gewalt zu verdecken und die Misshandlungen durch die Psychiatrie als medizinische Maßnahmen und als Hilfeleistung, Entmündigung als Betreuung, Schutz und Maßnahme zum angeblichen Wohle der Betroffenen darzustellen und ihre angebliche Notwendigkeit zu legitimieren. Dass die durch die Folter gebrochenen Personen nicht nur Krankheitseinsicht vorgeben, sondern am Ende auch glauben, "krank" zu sein, ist die effektivste Voraussetzung dafür, diese langfristig zu kontrollieren, die Fortführung der sogenannten "Behandlung" außerhalb einer psychiatrischen Anstalt zu garantieren und sie dem System anzupassen. Und schließlich erfolgt dies alles mit staatlicher Legitimation bzw. sogar aufgrund von staatlicher Anordnung.14 Psychiatrie
als Ideologie und Praxis im Dienste sozialer Kontrolle und Herrschaft
bei Ron Leifer: Auch der US - amerikanische Psychiatriekritiker und
Psychiater Ron Leifer, Schüler von Thomas Szasz, geht von dem Bestehen
einer psychiatrischen Ideologie aus, mit der soziale Kontrolle und Herrschaft
verschleiert wird: "Das medizinische Modell gibt vor, wissenschaftlich
zu sein, aber es funktioniert wie eine Ideologie". "Das soziale
Interesse, welches durch das medizinische Modell bedient wird, ist das
öffentliche Mandat für einen höheren Grad an sozialer Kontrolle
als es über die Herrschaft des Gesetzes gewährleistet werden
kann. Indem es bestimmtes Verhalten als geistige Krankheit etikettiert,
(..) ermöglicht und rechtfertigt das medizinische Modell eine außergesetzliche,
verdeckte Form von sozialer Kontrolle. (..) Im Lichte des medizinischen
Modells erscheinen diese Menschenrechtsverletzungen als medizinische Behandlung
und werden als solche gerechtfertigt". "Das medizinische Modell
entwickelte sich als Ideologie in einem historischen und politischen Kontext",
nämlich dem der europäischen Aufklärung. Psychiatriekritik bei Thomas Szasz und Michel Foucault: Der amerikanische Psychiater und Psychiatriekritiker Thomas Szasz (geb. 1920) verfechtet am eindeutigsten und radikalsten die These, dass es keine psychische Krankheiten gibt, und fordert vehement die Abschaffung jeglichen Zwangs durch die Psychiatrie, den er als 'Verbrechen gegen die Menschlichkeit' ansieht. Dies bedeutet, dass für alle Menschen gleiche Rechte gelten sollen und dass ein Mensch immer für sich und seine Taten voll verantwortlich ist und dass folglich weder die Psychiatrie aufgrund einer Diagnose noch das Individuum selber durch eigene Krankheitszuschreibung diese Verantwortung aufheben kann. Szasz stellte "Analogien zwischen Hexenverfolgung bzw. Inquisition im Mittelalter und den medizinischverbrämten Misshandlungen" auf.16 Zu einer ähnlichen Analyse kommt auch der Philosoph und Soziologe Michel Foucault (1926-1984) in zahlreichen Publikationen und Äußerungen: Er entlarvt die Psychiatrie als ein Instrument der sozialen Kontrolle, als eines der modernen Überwachungs- und Strafsysteme neben herkömmlichen Gefängnissen, Schulen oder Kasernen. Insbesondere in "Wahnsinn und Gesellschaft" beschreibt er die Geschichte des ,Wahnsinns' und dem gesellschaftlichen Umgang damit. Er untersuchte, "wie die Irren erkannt, beiseite geschafft, aus der Gesellschaft ausgeschlossen, interniert und behandelt werden konnten; welche Institutionen dazu ausersehen waren, sie aufzunehmen und einzuschließen, manchmal sogar zu betreuen; welche Instanzen über ihre Verrücktheit entschieden und nach welchen Kriterien welche Methoden angewendet wurden, um sie zu zwingen, zu bestrafen oder zu heilen".17 Foucault kommt (ebenfalls) zu dem Schluss, dass der Wahnsinn' gewissermaßen ein gesellschaftlich-kulturelles Produkt ist. (Er sagt jedoch nicht, dass es keinen Wahnsinn' gäbe). In "Mikrophysik der Macht" äußert sich Foucault über Gemeinsamkeiten und Unterschiede seiner Erkenntnisse mit denen von Thomas Szasz: Das historisch und politisch wichtige an Szasz' Buch "Die Fabrikation des Wahnsinns" sei zu sagen, "die Praxis, mit der man bestimmte Leute ausfindig machte, mit der man sie verdächtigte, isolierte, verhörte, mit der man sie als Hexer diagnostizierte - diese Machttechnik, die in der Inquisition zur Anwendung kam, findet man transformiert in der psychiatrischen Praxis wieder. Der Irre ist nicht der Sohn des Hexers, sondern der Psychiater ist der Nachfahre des Inquisitors".18 "Szasz interessiert sich für die Erkennungs- und Vernehmungstechniken. Ich habe mich für die sozio- polizeilichen Isolierungstechniken interessiert."19 "Wir sind in einen Gesellschaftstyp eingetreten, in dem die Macht des Gesetzes dabei ist, zwar nicht zurückzugehen, aber sich in eine viel allgemeinere Macht zu integrieren, nämlich die der Norm (..). Anscheinend weil die Bestrafung eines Verbrechens keinen Sinn mehr hat, setzt man den Verbrecher immer mehr mit einem Kranken gleich", so Foucault, "sobald sich nun eine Normgesellschaft entwickelt, wird die Medizin (..) zur Königin der Wissenschaften. Szasz sagt darum, daß die Medizin die Religion des modernen Zeitalters ist. (...)."20 Zusammenfassung: Die psychiatrische Zwangsbehandlung und die Schaffung von Ausschlussgebieten durch Wegsperren in Institutionen' und durch soziale Ausgrenzung ist ein Instrument, um Menschen an die politisch, sozial und wirtschaftlich gewünschte Norm anzupassen, indem der Versuch unternommen wird, sie glauben zu lassen, es sei zu ihrem Wohle oder sie zumindest zu überwachen und unerwünschtes Verhalten einzudämmen bzw. missliebige Personen aus dem öffentlichen Leben fernzuhalten, um einen möglichst störungsfreien Ablauf zu gewährleisten.
1
Literaturhinweise: Breggin, Peter: Giftige Psychiatrie. Band 1. Heidelberg
1996 Lehmann, Peter: Der chemische Knebel. Warum Psychiater Neuroleptika
verabreichen. Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag: Berlin 1990 (Überarbeitet
2005) zurück zum Text |